Bild: Unsplash
Bild: Unsplash
Bild: Unsplash
Bild: Unsplash
Bild: Unsplash
Bild: Unsplash
Alles schreit nach dem Tabu - 1
Alles schreit nach dem Tabu - 1
Alles schreit nach dem Tabu - 1
Alles schreit nach dem Tabu - 1

Kultur, Regionale News

Alles schreit nach dem Tabu

Die Lage ist dramatisch. Wieder hält die Welt den Atem an. Dieses Mal wegen eines Krieges – und wegen steigender Benzinpreise. Die gute Nachricht: Es gibt ein Rezept gegen höhere Preise. Es heisst Suffizienz und passt ideal zur Fastenzeit.

Teil 4 der Kulturblog-Serie zur Fastenzeit 2022 von Werner Kälin, Kulturblogger

Gleich in mehreren deutschen Satire-Sendungen sind der Krieg in der Ukraine und der Verzicht aufs Autofahren ein heisses Thema – etwa bei extra 3 oder in der heute Show.

Auch Jan Böhmermann beendete am 11. März 2022 das ZDF-Magazin Royal mit den Worten: «Tun Sie um Himmels Willen alles in Ihrer Macht stehende, den Krieg zu beenden – wenn es sein muss, sogar weniger Auto fahren.»

Bild: ZDF / Jens Koch

Diese Woche geht es in der laufenden Kulturblog-Serie darum, was hinter der deutschen Satire steckt, und was das Ganze mit der Schweiz, dem Kanton Glarus und der Fastenzeit zu tun hat. Soviel vorab: Es geht ums Eingemachte.

Mitten in der Fastenzeit

Die grosse Fastenzeit hat am Aschermittwoch begonnen und dauert noch bis Karfreitag. Mittendrin – 22 Tage nach ihrem Beginn – hat ein Krieg die Welt auf den Kopf gestellt. Während Menschen in Kriegsgebieten um ihr Leben bangen oder auf der Flucht nur das Nötigste mit sich tragen, beschränken sich unsere Sorgen auf den Verlust von Gewohnheiten, die sowieso – auch ohne Krieg – einem Kulturwandel ausgesetzt sind.



Eine der grössten aktuellen Sorgen in unserem Land äussert sich im Unmut über die steigenden Benzinpreise. Gleichzeitig beschäftigen sich die Menschen damit, ihre Fahrzeuge vom Saharastaub zu reinigen. Das Monothema Auto eignet sich gut als Ablenkung vom Wesentlichen. Dieses Wesentliche präsentiert sich gerade in seiner grausamsten Form: dem Krieg.

Inzwischen steht der Krieg vor unserer Autotür: Die Benzinpreise sind in wenigen Tagen auf über zwei Franken pro Liter gestiegen. Die Schlacht um Ideen für mögliche Lösungen läuft heiss: Von der Benzinpreisbremse über Tankgutscheine für Härtefälle bis zur Abschaffung von Gebühren und zu autofreien Sonntagen liegt alles Mögliche an staatlichen Eingriffen auf dem Tisch.

Als Gegenentwurf zu Massnahmen Dritter eignet sich die Fastenzeit für persönliche Sofortmassnahmen: Moderne Fastenformen wie das Klimafasten setzen auf das bewusste Erleben dieser Zeit durch freiwilligen Verzicht auf ungebremsten Konsum – also auf Ablenkungen vom Wesentlichen. Auch der eigentliche Hintergrund des Fastens, der Schwund der Reserven, ist gerade sehr aktuell.

Mit dem Markt spielen

In der Logik des Marktes führt die Verknappung eines Angebots zu Preiserhöhungen. Unter anderem beim Benzin begann diese Verknappung bereits als Folge der Corona-Pandemie. Der Effekt verstärkt sich nun weiter, weil ein potenzieller Lieferant ausfällt und Akteure wie Raffinieren die Krise für sich nutzen.

Das Szenario erinnert an die Ölkrise vor 50 Jahren. Damals mündete der Suffizienz-Gedanke in ein paar autofreien Sonntagen. Seither stieg die Anzahl Personenwagen gemäss Motorfahrzeugstatistik gesamtschweizerisch um 161 und im Kanton Glarus um 173 Prozent. Mit dieser Vervielfachung einher ging der Anstieg des Verbrauchs fossiler Treibstoffe.


Als Grund für diese Entwicklung wird gerne die Bevölkerungszunahme auf den Tisch gekeult. Zur Lösungsfindung gehört aber die Diskussion. Und zur Diskussion gehören das Fakten- und das Problembewusstsein. Denn die Bevölkerung ist seit der Ölkrise gesamtschweizerisch «nur» um 36 und im Kanton Glarus sogar nur um sechs Prozent gewachsen.

Die Zunahme ist also hauptsächlich auf das gesteigerte Mobilitätsverhalten mit eigenen Autos zurückzuführen – und auf die Ausrichtung der Infrastruktur auf diese invasiven Verkehrsmittel.



Mit Blick auf die Gefahren des Klimawandels sind fossile Treibstoffe wie Benzin oder Diesel seit den gleichen 50 Jahren nicht nur knapp, sondern eigentlich nicht mehr vorhanden. Die Reserven sind bereits verbraucht, weil die Menschheit ihren Treibhausgasausstoss auf Netto Null herunterbringen muss, um zu überleben.

Die gesamten Treibhausgasemissionen in der Schweiz sind auf folgende Quellen zurückzuführen:

  • 32% durch den Verkehr (ohne internationalen Flug- und Schiffsverkehr)
  • 24% durch Gebäude
  • 24% durch die Industrie
  • 19% durch die Landwirtschaft und Abfallbehandlung sowie den Ausstoss von synthetischen Gasen

Nun aber droht sich das Bewusstsein über die Relevanz des Mobilitätsverhaltens mit Forderungen wie Benzinpreisbremsen vollständig in Luft aufzulösen. Dabei lässt sich mit der Logik des Marktes durchaus spielen. Während die Verknappung eines Angebots zu Preiserhöhungen führt, mündet eine Verringerung der Nachfrage im Geldsparen und in Preissenkungen. Bei fossiler Energie steht also die Solidaritätsfrage im Raum: Wofür brauchen wir fossile Energie (im Moment noch) am dringendsten?

Bei dieser Priorisierung geht es um einfache und grundsätzliche Dinge wie...

… wollen wir frieren oder Auto fahren?

… wollen wir uns Lebensmittel oder ungehemmten Privatverkehr leisten?

… wollen wir bezahlbaren Sprit für das Gewerbe oder verteuern wir ihn mit dem Motorradausflug?

Diese Liste liesse sich endlos fortsetzen. Zum Beispiel mit der Frage, warum uns erneuerbare Heizungen zu teuer sind, obwohl sie weniger als unser neuer SUV, Sportwagen oder Tesla kosten?




Wichtiger, als die Liste hier fortzuführen, ist: Die Menschen müssen sich solche Fragen stellen, um Teil der Veränderung zu sein, statt von ihr überwältigt zu werden. Einfach ist das nicht, weil es um einen Kulturwandel geht. Die Fastenzeit bietet die Gelegenheit schlechthin, den Boliden mal auf Eis zu legen, solange es noch gefroren ist.

Erfindung eines progressiven Bistums

Schon vor 24 Jahren initiierte das Bistum Trier das erste Autofasten. Auch wenn es die Aktion in der deutschen Stadt so nicht mehr gibt, lebt die Idee weiter. Sie ruft dazu auf, das eigene Mobilitätsverhalten nachhaltiger zu gestalten. Es geht darum, in der Fastenzeit umwelt- und gesundheitsfreundliche Alternativen zum Autofahren auszuprobieren – also gar nicht oder deutlich weniger Auto zu fahren und stattdessen Zug, Bus, Velo, Füsse und Fahrgemeinschaften zu nutzen.

Autofasten hat einen klaren Bezug zum Klimawandel, weil der Verkehr für 32,4 Prozent der gesamten Treibhausgasemissionen verantwortlich ist. Von den CO2-Emissionen im Verkehr sind 72 Prozent auf Personenwagen, also den motorisierten Individualverkehr (MIV) zurückzuführen. 

 

 
Auch zu einem klimafreundlicheren Kanton Glarus passt der bewusste Verzicht aufs Auto. Denn der hiesige Motorisierungsgrad liegt mit 588 Privatwagen pro 1000 Einwohner:innen noch über dem deutschen Durchschnitt von 532. Die 18'450 Glarner Haushalte besitzen heute 24'272 Personenwagen. Das sind 1,3 Autos pro Haushalt. Ebenfalls 1,3 beträgt die Auslastung eines Autos – so wenige Menschen sitzen darin, wenn es fährt. Ein Mensch besetzt in einem Mittelklassewagen rund sechs Quadratmeter Platz – soviel wie sechs Fussgänger:innen zusammen.

Als ob diese Zahlen nicht genügten: Autofahren kostet die Gesellschaft mehr, als es nützt. Für den weitaus grössten Teil der 13,7 Milliarden Franken an externen Kosten des Verkehrs ist der MIV verantwortlich – nämlich für 7,8 Milliarden Franken.

 


Heruntergerechnet auf einen Personenwagen, sind das 1’660 Franken Kosten pro Jahr, die den Verursacher:innen nicht verrechnet werden. Vor diesem Hintergrund eine Subventionierung der Benzinpreise zu verlangen, fördert Ungerechtigkeiten zum Beispiel gegenüber Menschen, die nicht Auto fahren können – namentlich junge und alte – oder gegenüber autofreien Haushalten, denen keine Prämie für ihr klimaschonendes Verhalten winkt.

Menschlichkeit im Vordergrund

Hinter all diesen Fakten stecken auch Fragen der Menschlichkeit. Zum Beispiel verbraucht der Strassenraum ein Drittel der Siedlungsfläche – also öffentlichen Raum, in dem menschliche Begegnung nicht möglich ist.

Ein anderes Beispiel ist der Strassenlärm. Er trägt in der Schweiz 80 Prozent – über zwei Milliarden Franken pro Jahr – an die gesamte Lärmbelastung bei und erhöht bei 1,1 Millionen Menschen die Gesundheitsrisiken für Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und Demenz. Die Solidarität mit vulnerablen Personen tritt also nicht ein, wenn es um das Motorfahrzeug geht.




Einer, der sich schon lange Sorgen um die Gesundheit der Menschen wegen des Strassenverkehrs macht, ist Dr. med. Walter Blumer. Die Stiftung Pro Netstal würdigt den Netstaler Dorfarzt auf ihrer Website. Blumer brachte 1973 das Büchlein «Motorisierung – Seuche des Jahrhunderts» heraus. Damals ging es um die Luftverschmutzung durch den Strassenverkehr.

Luftverschmutzung und Lärmbelastung sind laut WHO heute die grössten Gesundheitsgefahren in Europa. Beiden Problemen und dem Klimawandel begegnen wir primär mit technischen Lösungen – vom Katalysator über das E-Auto bis zu lärmarmen Strassenbelägen und Schallschutzfenstern.

An der Quelle, also beim Verhalten, passiert mit dem Rebound-Effekt leider das Gegenteil. So fahren Menschen in der Schweiz europaweit die schwersten Autos. Gut 1,7 Tonnen wiegt eines davon im Schnitt. Das ist mehr als das Zwanzigfache des Menschen, der darinsitzt, und knapp 300 Kilo mehr als in der EU. Steigende Benzinpreise wirken sich deshalb in der Schweiz stärker aufs Portemonnaie aus.



Kreativität gefragt

Die vielschichtigen Probleme des MIV lassen sich dann effektiv angehen, wenn auch die Suffizienz auf dem Plan steht. Klar: Auch der Verzicht kann zu Problemen führen. Zum Beispiel für Arbeiter:innen im lokalen Autogewerbe. Die Glarner Garagisten wären vermutlich einem ziemlichen Stresstest ausgesetzt, wenn plötzlich deutlich mehr Menschen auf ihr Auto verzichteten.

Soeben hat dieses Glarner Autogewerbe seine Garagissimo veranstaltet. Die Autoshow ist seit 25 Jahren Tradition und durchaus ein gesellschaftlicher Anlass. In den Glarner Nachrichten erzählt einer der teilnehmenden Garagisten, dass die Lieferschwierigkeiten bei Neuwagen derzeit zu Wartezeiten zwischen acht und zehn Monaten führen. Als Alternative kann also auch mal eine Occasion genügen.

Lieferengpässe sind wie Preiserhöhungen Zeichen einer Ressourcenverknappung. Um die betroffenen Branchen und die mit ihr verbundenen Arbeitsplätze in die Zukunft zu retten, sind neue Ideen gefragt. Diese erschöpfen sich allerdings nicht in neuen Antriebsformen für alte Problemursachen. Denn Garagen sind eigentlich wie gemacht für Werkstätten der Kreativität und Innovation.


Zur Innovation im Autogewerbe gehören zum Beispiel Felder wie Carpooling, Carsharing, Autovermietung oder Fahrdienste, auf denen sich Garagisten von heute zu Mobilitätsexperten von morgen etablieren können. Für den einen oder anderen Betrieb ist vielleicht eine Konzentration auf Fahrzeuge im systemrelevanten Einsatz lohnenswert – zum Beispiel auf Liefer- und Lastwagen, Busse, Landwirtschafts- oder Rettungsfahrzeuge.

Eine weitere Möglichkeit wäre die sukzessive Umstellung auf Infrastrukturangebote wie Ladestationen oder platzsparende Parkierungsanlagen. Damit könnte der Mobilitätsexperte einen Verleihservice mit alternativen Verkehrsmitteln wie richtig fetten Velos oder stilvollen Rikschas verbinden – zum Beispiel in Zusammenarabeit mit Velowerkstätten und dem geschützten Arbeitsmarkt.

Neue Formen statt alte Zöpfe

Die Welt verändert sich rasant. Um mit dem Tempo Schritt zu halten, braucht es wachsame Menschen. Im Rausch der Strasse lässt sich aber viel schneller viel mehr Ablenkendes tun. Im selben Rausch isolieren sich die Menschen voneinander.

Dass in einem Auto im Durchschnitt weniger als zwei Personen sitzen, verdeutlicht die Verbreitung des menschlichen Rückzugs in eine abgeschlossene, technologische, eigene Welt. Dadruch entsteht auf der Strasse eine individualistische Parallel-Kultur auf Kosten der gemeinsamen Kultur im öffentlichen Raum. Die negativen gesellschaftlichen Effekte der Gewohnheit Autofahren werden immer stärker: Die Aggressionen steigen und der Narzissmus nimmt mit den Pferdestärken zu.



Fasten hilft, alte Gewohnheiten zu hinterfragen, etwas Neues auszuprobieren und sein Verhalten nachhaltig zu verändern. Dieses Entlernen von schädlichen Gewohnheiten ist am Ende mindestens eine persönliche Bereicherung. Tun es viele, wird auch ein Kulturwandel möglich.

Wie «Verhaltensänderungs-Lernen» funktionieren kann, zeigt das Buch SWITCH. Die Autoren haben ein Modell aus drei Elementen entwickelt, das solchen Umlernprozessen unterliegt:

  1. The Rider (das analytische Selbst, die Kognition): Er oder sie braucht Vorgaben und hat ein Ziel.
  2. The Elephant (der biographische Rucksack): Die eigene Trägheit verhindert Änderung. Es sei denn, man könne dem inneren Elefanten glaubhaft machen, dass das erste Stück Weg kinderleicht zu bewältigen ist. Schwenkt er einmal auf den neuen Kurs ein, rückt er nicht so schnell wieder davon ab.
  3. The Path (der Weg zum Ziel): Weil jede Gewohnheitsänderung viel Trägheit zu überwinden hat, muss der Weg zum Ziel in kleine Schritte unterteilt werden, so dass vor allem das erste Wegstück bewältigbar scheint.

Weitere Artikel der Kulturblog-Serie zur Fastenzeit 2022 unter #klimafasten im Suchfeld der Glarner Agenda

Autor

Kulturblogger Glarus

Kontakt

Kategorie

  • Kultur
  • Ostschweiz

Publiziert am

23.03.2022

Webcode

www.glarneragenda.ch/3tNDkn