Glarus

Buch einer Taliban-Geisel - tief berührend und sehr informativ

Daniela Widmer, die mit David Och ein Buch über ihre 8-monatige Gefangenschaft bei den Taliban verfasste, war am Freitagabend auf Einladung des Vereins kulturzyt in Glarus zu Gast. Lesung und Gespräch vermittelten Eindrücke aus erster Hand.

Es war mehr als der Erlebnisbericht von einem immer noch im Krieg befindlichen Hotspot unserer Erde. Mehr als eine Abenteuergeschichte, die zwar mit einer Rückkehr in die Freiheit und westliche Zivilisation endet, wo man aber nicht einfach ein Happy End feiern kann, schwarz und weiss, Gut und Böse, klar zuordnen kann. Denn was das Publikum von der ehemaligen Taliban-Geisel Daniela Widmer und der Lesung aus ihrem 2013 im Dumont Verlag erschienenen Buch „Und morgen seid ihr tot“ erfährt, macht tief nachdenklich. Gleich schon am Anfang, als Lektorin Danielle Hefti die Entführungsszene liest, wird die Stimmung im Raum sehr sensibel, das Geschilderte geht wohl allen nah. Dann stellt sich Widmer den ersten Fragen des jungen Moderators Nicolas Ferndriger. Er führt geschickt zurück zum Beginn und Verlauf der Reise – hier wird deutlich, dass die Entführung trotz sorgfältiger Vorbereitung und Einhaltung aller möglichen Sicherheitsvorkehrungen geschah. Er geht auf die Anfangszeit der Gefangenschaft ein, will wissen, was half, den Lebensmut aufrecht zu erhalten. Widmer erzählt von Selbstgesprächen mit ihrer Mutter, ihrer Familie, dem Glauben an die zwar unrealistischen Zeitangaben, mit denen die Entführer sie vertrösteten, dass sie bald freikämen. Ihr Partner David sei eher realistisch gewesen, jeder Misserfolg in den Verhandlungen sei deshalb sehr erschütternd gewesen.  In weiteren Lese-Blöcken lassen Jonathan Golling und Danielle Hefti das für Schweizer Bürger wohl kaum vorstellbare Leben im verarmten und jeglicher Infrastruktur beraubten Waziristan lebendig werden: Entwurzelte Familien ohne Bildung und Zugang zu Ressourcen; Männergesellschaften, die nichts als Waffen, Propaganda-Videos und eine strenge religiöse Ideologie kennen, Frauen, die lebenslang eingesperrt und wie Tiere behandelt werden (und auch nur so viel kosten wie eine Kuh). Ein Menschenleben zählt da nichts, „Wo ist das Problem, wenn du stirbst, deine Eltern haben ja noch drei Kinder?“ fragt etwa die Mutter ihres Bewachers Daniela, die selbst zwei Kinder an der Front verloren hat. Dennoch ist das nur die eine Seite, auf der anderen steht ein Ehrenkodex, mit dem die Paschtunen ihre entführten Gäste behandeln. Ihnen wird keine Gewalt angetan, manche zeigen gar Mitgefühl und setzen sich immer wieder für die Geiseln ein. Daraus entsteht fast so etwas wie eine freundschaftliche Verbundenheit. „Stockholm-Syndrom“, wird es genannt, wenn die Opfer mit den Tätern sympathisieren, doch verständlich ist es allemal. “Man muss doch jeden Strohhalm zur Rettung ergreifen“, so Widmer. So entsteht ein vielschichtiges Bild der Situation, und im Saal werden immer wieder Emotionen spürbar. Manchmal sind die Tränen nahe, dann wieder kann auch über Kurioses herzhaft gelacht werden. Die authentische, direkte und offene Art von Daniela Widmer lässt ein tiefes Eintauchen ins Erlebte zu. Und so, wie sie für immer eine Andere wurde durch die Entführung, wird auch das Publikum verändert nach Hause gehen, wenn auch natürlich im kleinen Rahmen.    


Eigentlich sollte das Ende des Buches, die abenteuerliche Flucht aus dem abgeriegelten Innenhof des Geisel-Hauses bis zum nächsten Militärstützpunkt und nach Hause, auf der Piazza der Landesbibliothek nicht verraten werden. Damit es spannend bleibt, wenn jemand das Buch selbst lesen möchte. Doch als bereits fünf Viertelstunden mit Lesung und Gespräch vergangen sind, kommt aus dem Publikum eine Stimme: „Wie konnten Sie denn schlussendlich entkommen?“ Und Autorin Daniela Widmer, sie ist auch Ausdauersportlerin, setzt zum erzählerischen Schlussspurt an. Sie erinnert jedes Teil sehr genau – und bei einer Flucht können Details wie eine quietschende Tür oder das Stolpern an falscher Stelle entscheidend sein. Nochmals zieht sie das Publikum ganz in den Bann jener fremden, bedrohlichen Realität, der sie über acht Monate ausgeliefert war. Schliesslich sind nochmals zwanzig Minuten verstrichen, es gibt herzlichen Applaus für die junge Frau, die mit der Lesung in Glarus erstmals wieder nach längerer Pause den Mut fand, in die Öffentlichkeit zu treten.


Denn der Alptraum war nach der Entführung noch nicht beendet: Medien und anonyme Schreiber haben dem Paar, das sich immerhin selbst befreite und so den Staat von Lösegeld-Zahlungen verschonte, nicht verschont: Sie wurden von der Presse mit Falschmeldungen bedroht, verloren Wohnung und Stelle, hatten Rückzahlungen und gemeinnützige Arbeit zu leisten. Daniela Widmer, heute junge Mutter und von einem guten familiären Umfeld getragen, konnte die schwere Zeit einigermassen gut verarbeiten – sie sieht in allem nicht nur Schlechtes. Für ihren Ex-Partner David Och, der heute in Südfrankreich lebt, war es wohl schwerer: „Während der Entführung war er oft derjenige, der mich stützte, den Optimisten gab, um eine Lösung kämpfte. Das hat sehr viel Kraft gebraucht. Zugleich litt er an schwerer Malaria, war also auch körperlich sehr angegriffen.“ Das habe auch mit dazu geführt, dass schliesslich die Flucht als einzige Option blieb, und es musste im Frühling sein - am 15. März werden es fünf Jahre sein. Denn: „Noch solch ein Sommer in der Bruthitze von bis zu 55 Grad, ein Leben ohne jeglichen Hygienestandard mit ständigem Durchfall, Insekten und wieder Malaria, würden wir nicht überstehen.“ Zudem seien sie in ihrer zwar abgelegenen Unterkunft ständig den Drohnen des Militärs ausgesetzt gewesen, entkamen einmal knapp einem Bombenangriff, und rechneten damit, dass früher oder später das Aus käme, denn: „Jedesmal wenn ranghohe Taliban zu Besuch kamen, bestand die Gefahr, dass der ganze Ort ausgelöscht wird, weil diese VIPs überwacht und als Ziel einer Detonation markiert werden.“ Die beiden Hauptfunktionäre, von welchen das Buch berichtet, seien inzwischen umgekommen, weiss Daniela Widmer. Sie selber fühlt sich heute nicht mehr wohl, wenn sie sich in geschlossenen Räumen mit surrenden Geräuschen, und seien es nur PCs, aufhalten muss. „Nach der Babypause werde ich an der Rezeption eines Campingplatzes arbeiten“, sagt Widmer. Sie empfindet grosse Dankbarkeit für ihr „neues“ Leben, und weiss, wie vieles nicht selbstverständlich ist. Darin wäre sie ein grosses Vorbild für manch unzufriedenen Zeitgenossen.
Swantje Kammerecker

Autor

Kulturblogger Glarus

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Publiziert am

10.03.2017

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