Zelte
Zelte
die Band auf dem Weg ins Festzelt
die Band auf dem Weg ins Festzelt
ein Ritter
ein Ritter

Markt / Messe

Zu Besuch im Mittelalter

Am mittleren Augustwochenende fand in Mollis das erste Mittelalterspektakel statt. Der Anlass lockte viele Besucherinnen und Besucher an und bot Musik, Geschichten und Kulinarisches für jedes Alter.

Zu Fuss der Linth entlang ab Bahnhof Netstal spaziere ich mit meinem Hund und sehe schon von weitem die weissen Zelte, an diesem heissen Tag. Die Morgenfrische hat sich bereits im Sonnenschein aufgelöst, Modellflugzeuge fliegen geräuschvolle rauchverzierte Loopings am noch blauen Himmel.

 

An der Wegverzweigung Richtung Rollpiste steht ein erster Vorbote des Spektakels: das Siechenhäuschen, darin Minnesänger Heiry von + mit Trümpy, der eine Ballade von der Anna Göldi singt. Dazu spielt er Handorgel, und es klingt sehr schön. „Ihr wisst schon, warum ich hier ausserhalb des Dorfes bin?“ fragt er ins Publikum. „Würggli nüd? Dann schaut doch mich an. Ich armer Tropf bin krank, und die Kranken werden bei uns aus der Gesellschaft ausgesondert, damit sie die Gesunden nicht anstecken können.“ Daraufhin stimmt er fröhlich ein Lied mit Maultrommelbegleitung an.

 

Am Rand der Rollpiste sind ziemlich viele Autos geparkt, aber schon ertönt wieder Gesang, mehrstimmig diesmal und von Trommeln begleitet. Ich bezahle den Eintritt von Fr. 25.— (der Hund darf gratis rein, muss aber an der Leine bleiben) und bekomme ein Bändeli um den Arm. Zahlreiche Zelte und Stände sind in einer Reihe aufgebaut, auch auf der Wiese neben den Hangaren sind mobile Unterkünfte aufgestellt, darin haben viele der Schaustellerinnen übernachtet. Einige Zelte gewähren einen Einblick ins Innere und sind behaglich luxuriös ausgestattet, mit Orientteppichen und schön hergerichteten Doppelbetten, Oellampen und Truhen.

 


Neugierig trete ich in diese fremde Welt ein. Ich verfalle sofort in Staunen angesichts der kostümierten Menschen. Das Auge schweift und bleibt immer wieder hängen: Ritter und Prinzessinnen, Hirtenbuben, Seeräuber. Mönche, Bauern, Drechsler, Falkner…  Neben den Leuten gibt es viele nie vorher gesehene Dinge anzuschauen und zu kaufen, die nebst der typischen Kleidung der Ausstattung der Mittelalter-Verrückten dienen: Rabenköpfe, Felle, Tinkturen, handgenähte Sandalen, Füllhörner, Ledermasken, Schwerter…

 

An einem Stand unterhalte ich mich mit einem jungen Mann. Er verkauft Dekorationsgegenstände aus Schildpatt, gegerbte Tierfelle, ausgestopfte Vögel. „Diese Sachen werden alle in der Schweiz nach alten Verfahren hergestellt. Ich erwerbe die Rohstoffe von Jägern oder Schlachthäusern, selber esse ich kein Fleisch. Ich finde es wichtig, dass die schönen Felle nicht weggeworfen werden. Die Raben werden ebenfalls geschossen, weil es zu viele davon gibt. Aus gut erhaltenen Exemplaren lässt sich schon Schönes herstellen!“

 


Nebenan hat der Wanderbader seine Zelte aufgeschlagen. Es gibt zwei Badebottiche und drei Massageliegen, auf der hölzernen Tafel steht „Baderey und Kneterey“. Ich widerstehe der Versuchung und gehe weiter zur Mampferey und Trinkerey. Der Buchstabe Y scheint im Mittelalter eine wichtige Rolle gespielt zu haben – oder wird er einfach heutzutage dazu benutzt, eine Beschriftung altertümlich wirken zu lassen…?

 


Alles möchte hier authentisch aussehen, schmecken und klingen.

 

Eine junge Frau erzählt mir, sie gehöre zu einem Wikinger-Clan. „Wir spielen das Leben im 8. und 9. Jahrhundert, dazu gehört die richtige Kleidung, aber auch die Lebenseinstellung ist wichtig. Wir leben eher nach traditionellen Rollenbildern.“ Ihr Mieder ist mit einer sehr schönen Kette aus farbigem Glas verziert – „Ja, damals konnte man bereits solche Glasperlen herstellen, schön, gell! Schau, diese und diese hier habe ich selber gemacht! Jedes Stück meines Schmuckes hat eine symbolische Bedeutung: der grosse Messinganhänger in der Mitte steht für meinen Mann, die zwei Stäbe auf den Seiten für meine Kinder.“

 


Die Foltershow ist zum Glück bloss ein Informationsanlass, wenn auch mit realistisch nachgebauten Requisiten inszeniert. Ein Mann dient als Demonstrationsobjekt, der andere erzählt. Nach fünf Minuten muss ich gehen, ich möchte nicht mehr darüber erfahren, mehr Wissen über solche Praktiken möchte ich mir jetzt gerade nicht erwerben. 

 


Nun habe ich Hunger und bestelle mir einen „Brutus der Unfarbige“. Spezieller Name, feiner Flammkuchen aus dem Holzofen. Den grössten Teil der Rucola-Bedeckung bläst allerdings die inzwischen aufgekommene Bise weg. Macht nichts, ich hole mir jetzt noch eine sogenannte Kartoffelpeitsche mit Zwetschgensosse. Auf den kuriosen Namen angesprochen meint die Bäckerin: „eigentlich heisst dieses Gebäck bei uns in Ulm Kartoffelwurst, ich entschloss mich, einen neuen Namen dafür zu erfinden, weil mich zu viele Kunden fragten, ob es Fleisch drin hat.“

 

Als nächstes eine Première in der Première: ich werde mich portraitieren lassen! Corina Cor von Feuer-Werk bietet dies für den Preis von 20 Franken pro Konterfei an. „Diese Art Farben gibt es seit dem Mittelalter, sie werden aus Steinen gewonnen und sind, im Gegensatz zu Pflanzenfarben, dauerhaft lichtecht. Die Pigmente rühre ich mit einer Mischung aus Hühnerei und Terpentin an“. Eine Viertelstunde sitze ich ihr Modell, unterhalte mich mit der Künstlerin und muss ein Gesicht machen, das sie abmalen kann. Ich bin gespannt auf das Ergebnis! Dabei stelle ich die Frage in den Raum: „haben die Leute, welche in der Mittelalterspektakelszene verkehren, eine übereinstimmende politische Gesinnung…?“ Corina lacht. „Das ist eine gute Frage, ich weiss es nicht!“

 


Barfüssige, Verkleidete, Fröhliche. Die Stimmung ist gut, friedlich, freundlich - Turnei hat einen sehr gut organisierten Anlass ins Glarnerland gebracht, der jung und alt gefällt und allen etwas bietet, die sich für Kultur und für das Zusammenleben von Menschen im Mittelalter interessieren.

P.S. wen's Wunder nimmt: mein Porträt habe ich zurzeit als Profilbild auf meinem Instagram-Account eingestellt.

Text und Fotos von Eva Gallati, Kulturbloggerin

Autor

Kulturblogger Glarus

Kontakt

Kategorie

  • Markt / Messe

Publiziert am

22.08.2022

Webcode

www.glarneragenda.ch/7Z6Zn6