Engel.  Bild :Gavin Allanwood bei unsplash
Engel. Bild :Gavin Allanwood bei unsplash
Das Glarner Kammerorchester. Foto: Jarryd Lowder
Das Glarner Kammerorchester. Foto: Jarryd Lowder
Rilkes Gedichte bei Reclam. Foto: Eva Gallati
Rilkes Gedichte bei Reclam. Foto: Eva Gallati

Glarus

Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn …

Ein Sonntagnachmittags-Konzert mit Lesung im Frühling, während draussen der April tobt. In der Stadtkirche Glarus liest Pfarrerin Dagmar Doll Gedichte von Rainer Maria Rilke, das Glarner Kammerorchester und die Organistin Lara Schaffner musizieren.

von Eva Gallati, Kulturbloggerin

Es ist schon fast Mai, lieblich ist die Luft und friedlich das Dorf und die Hügel unter den Bergen. Wir leben in einer Idylle, in einer Stille, ich, in meinem milden Lebensherbst, treffe auf den strahlenden Frühling, und ich darf mir Gedichte „meines“ Rainer Maria Rilke anhören in der stolzen Glarner Stadtkirche. Auch Musik wird gespielt, sogar etwas von Arvo Pärt. Mit seiner Musik habe ich gelernt, Dissonanzen zu lieben und darauf war ich stolz, mit Mitte zwanzig! 


Dagmar Doll liest die Einführung, erzählt Biographisches über die vier Komponisten, deren Werke das Glarner Kammerorchester und die Organistin Lara Schaffner aufführen werden.

Ernest Bloch, Samuel Barber, Arvo Pärt und Leos Janacek


Ernest Bloch war ein Zeitgenosse von Rilke und gilt als „Vater der jüdischen Musik“. Ich habe vorgängig auf spotify Musik von ihm angehört und assoziierte einiges davon mit der Filmmusik, welche die heile Nachkriegswelt der 50er-Jahre auf der Leinwand untermalte. Das „Concerto grosso“ Nr. 1 für Streichorchester, welches auf dem Programm steht, wurde für das heutige Konzert für die Orgel eingerichtet anstelle des Klaviers. Damit könnte es sich um eine Uraufführung in dieser Version handeln.

Samuel Barber, ein US-amerikanischer Komponist, schuf  mit seinem „Adagio for Strings“ das „traurigste klassische Stück“, welches beispielsweise am Radio anlässlich der Gedenkanlässe für die Opfer der Anschläge vom 11. September und später von Covid-19 gespielt wurde und fortan mehrfach als Filmmusik Verwendung fand. 

Arvo Pärt stammt aus Estland, musste aber aus politischen Gründen während Sowjetzeiten emigrieren und lebt seither im Westen. Das Orchesterstück „Fratres“ zählt zu seinen berühmtesten Kompositionen. 

„Idyla“ von Leos Janacek aus Tschechien zählt zu dessen Jugendwerken, es wurde also noch im 19. Jahrhundert erschaffen. Der 5. Satz wurde als Filmmusik in „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ berühmt.


Der sehnsüchtige Dichter 


Über Rilkes Leben erfahren wir wenig, nur dass er 1875 in Prag geboren wurde und 1926 in Montreux starb. Ihn beschäftigten Fragen der Existenz und Transzendenz, er hatte verschiedene Lebenskrisen zu bewältigen, er- und überlebte den 1. Weltkrieg und rang sein Leben lang um Lebenssinn und Seelenfrieden. 
Nach der zehnminütigen Einführung erklingt Musik, „Prélude“ und „Dirge“ von Bloch, die zuerst stark rhythmisch und dann zart melodiös von der Empore herab erklingen, darauf folgen die drei Gedichte „Aus einem April“, „Es winkt der Frühling“ und „Blaue Hortensie“. Sie vermitteln Leichtigkeit, Vorfreude auf den Genuss von Schönheit und Wärme - doch schon die Hortensien fangen an zu verdorren, das Blau mischt sich mit Grau, lässt Rilke zurückdenken und hoffen auf neue Farben.

Gefühlvolle Stunden


Nun erklingt traurige Musik, sie kommt mir allerdings nicht bekannt vor. Soweit ich mich erinnere, habe ich keine der oben genannten Gedenkanlässe am Fernsehen verfolgt. Die Musik ist gefühlvoll und langsam, doch für mich gibt es viel, viel traurigere Weisen. Dagmar Doll begibt sich ans Mikrofon und liest weiter. Es wird jetzt so richtig schwer mit „Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden“ und „Der Schauende“. Wie einsam und bang musste sich der Dichter als 25jähriger gefühlt haben! Rilkes Sprache ist hier rätselhaft, suchend. Wir sitzen und lassen die Worte in uns nachklingen, als plötzlich das Schlagwerk erklingt - mir scheint, als schlage mir von ferne die Stunde. Gleichzeitig summt und brummt die Orgel einen grollenden tiefen Grundton, die Streicher schweben in schönen Melodien darüber, immer wieder von Perkussionsklängen unterbrochen. Es ist ein langes Stück, ich vertiefe mich hinein, versinke in Gedanken. Welche Musik mag Rainer Maria Rilke in seinem Leben begleitet haben? Hat er je ein Musikstück mehr als einmal gehört – ausser vielleicht Volksliedern? Er muss viele Konzerte besucht haben, war ja in gehobenen Kreisen als gern gesehener Gast bei Festivitäten dabei, durfte Schlösser bewohnen, z.B. dasjenige in Duino (I), Eigentum der Fürstin Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe. Für sie hat Rilke seine Duineser Elegien geschrieben, die zu meinen liebsten Gedichten zählen. Der Titel meines Beitrags ist die erste Zeile der ersten Elegie. Ihre Schönheit offenbart sich in traurigen Stunden und tröstet, nachdem sie die Leserin zu Tränen gerührt hat. Seltsam verstanden fühlt sie sich da.

Rilke hatte sich als Jugendlicher dagegen gewehrt, den Erwartungen seiner Eltern zu ensprechen, und brach eine Schule nach der anderen ab. Schliesslich verbaute er sich alle Karrieremöglichkeiten durch einen Liebes-Fehltritt. Er wollte von niemandem abhängig sein, begab sich aber als Künstler zeitlebens in die Abhängigkeit von reichen Gönnerinnen und Gönnern, die ihm ein abwechslungsreiches Leben ermöglichten. Unstet, nirgends zuhause, ohne Familie und Verwandtschaft liess er sich treiben. Geborgen zu fühlen schien er sich in Worpswede, in einer Künstlerkolonie, in der auch Otto Modersohn und Paula Modersohn-Becker lebten, blieb aber nicht dort, sondern besuchte viele Städte und Orte überall in Europa, lernte viele Künstlerinnen und Künstler kennen und schrieb über sie und ihre Werke.



So sitze ich in der Kirchenbank zwischen zwei Schwagern, aufrecht und geradeaus blickend resp. hinter geschlossenen Lidern. Vor mir glitzert das mit grellbunten Kipp-Pailletten besetzte Kulturblog-Notizbuch, ich drehe es im Licht, verschwommen sieht das aus, so ohne Brille…Würde es jemand sehen, wenn mir eine Träne aus dem Auge fallen und über die Wange rinnen würde? Meine Traurigkeit und mein Sehnen wiegen sich zwischen diesen Säulen, äusserlich bin ich still und unbewegt.

„Da neigt sich die Stunde und rührt mich an
mit klarem, metallenem Schlag:
mir zittern die Sinne. Ich fühle: ich kann -
und ich fasse den plastischen Tag.

Nichts war noch vollendet, eh ich es erschaut,
ein jedes Werden stand still.
Meine Blicke sind reif, und wie eine Braut
kommt jedem das Ding, das er will.

Nichts ist mir zu klein, und ich lieb es trotzdem
und mal es auf Goldgrund und groß
und halte es hoch, und ich weiß nicht wem
löst es die Seele los...“

Rainer Maria Rilke, Da neigt sich die Stunde (1899)

Sozial- und fortschrittskritisch geht es weiter mit „Die Städte aber wollen nur das Ihre“ und „Der Panther“. Mit Janaceks fein zarter, lieblich tänzerischer Musik tauche ich vollends ein, das ist der Rilke den ich kenne und liebe, diese manchmal abstrusen Wortbilder, welche verborgene Saiten in mir zum Klingen bringen, die ich nur mit dem Herzen verstehe, aber mit ihm so ganz richtig, stark.  

Es gibt noch drei Herbstgedichte und ein weiteres wunderschönes Stück von Ernest Bloch, die „Fugue“ aus dem Concerto Grosso Nr. 1. Sie erhebt sich vollreif, symphonisch, getragen mit Bedacht und verströmt sich im grossen Raum. Ich lehne mich zurück, geniesse  -und erwache viel zu bald, vom Applaus verschreckt.

 

 

Autor

Kulturblogger Glarus

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Kategorie

  • Glarus

Publiziert am

01.05.2023

Webcode

www.glarneragenda.ch/4Q7DQe