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Glarus

"UNS REICHT'S!"

Das Anna Göldi Museum in Ennenda zeigt in Zusammenarbeit mit Amnesty International eine berührende Ausstellung zum Thema sexualisierte Gewalt. Der Zeitpunkt ist gut gewählt, denn die Reform des Sexualstrafrechts in der Schweiz steht bevor. Eindrücke in Wort und Bild von der Vernissage am 1. April.


von Eva Gallati, Kulturbloggerin

Bestechend ästhetisch sind die von innen beleuchteten Bilder im Hänggiturm, wenig Licht dringt durch die hölzernen Fensterläden, es ist warm im Raum. Zur Vernissage haben sich einige wenige Frauen eingefunden. Die Museumsleiterin, Dr. phil. Ursula Helg, führt zusammen mit der Fotografin Anne Gabriel-Jürgens durch die Ausstellung. Angesichts des überschaubaren Publikums wird auf Stühle und Rednerpult verzichtet. Auch die Häppchen und Getränke sind schon zugänglich, Gespräche gehen in die Präsentation über.

Ursula Helg führt uns vor die Bilder. Jedes davon repräsentiert eine Geschichte persönlich erlebter sexualisierter Gewalt. Die sieben Frauen haben sich dazu entschlossen, ihre traumatisierenden Verwaltigungsgeschichten zu erzählen, über ihre persönlichen schlimmen, verstörenden Erfahrungen zu sprechen, die ihnen durch Männer zugemutet wurden, Ereignisse, die oft viele Jahre zurückliegen und doch noch immer wirken. Indem die Aktivist*innen davon erzählen, befreien sie sich von Scham und Schweigen. Sie wollen mit ihren Geschichten anderen Betroffenen Mut machen und mit gängigen gesellschaftlichen Narrativen zum Thema sexualisierte Gewalt aufräumen. 



Was ist eine Vergewaltigung?

Bei diesem Wort stellen wir uns immer noch vor, dass eine Frau im Wald von einem Unbekannten überfallen und missbraucht wird. Blutend, mit zerrissenen Kleidern schleppt sie sich nach Hause und macht bei der Polizei eine Anzeige gegen den Missetäter, der für das Verbrechen bestraft wird. 

Die Geschichten hinter den Bildern decken Mythen, Tabus und Stigmata auf, die in unserer Gesellschaft noch heute unhinterfragt weiterbestehen.

Zum Beispiel: Wie eine betroffene Person sich verhalten soll, vor, während und nach der Tat. Dass nur eine ungewollte Penetration als Vergewaltigung gilt, und dies auch nur, wenn der Täter das Opfer noch zusätzlich genötigt hat, etwa durch Gewalt oder Drohungen. Die Realität sieht anders aus. Menschen werden von nahestehenden Menschen missbraucht, denen sie vertraut hatten. Sie wehren sich nicht gegen den Übergriff, aus verschiedenen Gründen – einer davon ist das sogenannte „Freezing“: das Opfer erstarrt. Fachleute nennen dies einen Selbstschutz-Reflex, die vernehmenden Beamten betrachten es als Minuspunkt: wer sich nicht gewehrt hatte, der hat seine Haltung nicht klar kommuniziert. Ein weiterer Mythos ist, dass jede Person, die einmal sexuelle Gewalt erlebt hat, den Wunsch nach und die Fähigkeit zur Freude an sexuellen Begegnungen für immer verloren hat. Auch diese gesellschaftliche Haltung ist schwierig für Betroffene, sie verlängert oft den Heilungsprozess oder verbaut Sicht auf das Bewusstsein dafür, dass ein solcher überhaupt möglich ist. 

Du kannst ja gehen, wenn es dir nicht passt!

Sonia zum Beispiel sagt: „Die meisten Frauen, mit denen ich mich austauschte, mussten den Tod fürchten, um gehen zu können.“ Sie wurde von ihrem Ehemann 10 Jahre lang immer wieder vergewaltigt und geschlagen. Bevor sie gehen konnte, musste sie zwei weitere Dinge erkennen: ich kann meinem Mann nicht helfen, auch wenn dieses Verhalten aus seinem Leiden erwächst, und es wird nicht aufhören.

Manche Frauen erkennen erst nach Jahren, dass es sich bei einem sexuellen Übergriff um eine Vergewaltigung gehandelt hatte. So Jorinde, die im Alter von 19 Jahren oral vergewaltigt wurde und sagt: „ich habe mich nicht körperlich gegen ihn gewehrt, so überrascht war ich“. Als sie erkannte, dass alles, was ohne ihre Zustimmung passiert, Gewalt ist, spürte sie die Tragweite dieses Übergriffs.




Nein heisst nein vs. Nur Ja heisst Ja

Das Schweizerische Sexualstrafrecht soll nun revidiert werden, es ist momentan beim Parlament in der Vernehmlassung. Die Vorlage des Ständerates trägt den Titel  "Nein heisst Nein". Aus dem Vernehmlassungstext: „Neu begeht eine Vergewaltigung, wer gegen den erkennbaren Willen einer Person den Beischlaf oder eine beischlafsähnliche Handlung, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden ist, vornimmt oder vornehmen lässt. Damit werden künftig auch Opfer männlichen Geschlechts von diesem Tatbestand erfasst werden.“ Noch immer wird also ein Wehren gegen diese Handlung vorausgesetzt, und zwar eine Form des Wehrens, welche für den Täter klar erkennbar ist. Es kann also darüber diskutiert werden, ob ein Nein für einen Täter überhaupt eindeutig identifizierbar gewesen ist.

Unter dem Titel "Nur Ja heisst Ja!" hat die SP Schweiz ihren Gegenvorschlag platziert. Sie findet die Vorlage des Ständerates ungenügend und fordert, „dass der Grundsatz «Nur ja heisst ja» eingehalten wird: Jede sexuelle Handlung ohne Zustimmung ist im Gesetz als Vergewaltigung anzuerkennen, und zwar unabhängig von Geschlecht und Körper der betroffenen Person.“ Der gleichen Meinung ist die Alliance F, der Bund Schweizerischer Frauenorganisationen, ein gemeinnütziger, parteipolitisch unabhängier und konfessionell neutraler Verein , der die Interessen von über 100 Mitgliederorganisationen und über 900 Einzelmitgliedern vertritt, zu ihnen gehören Frauen (und Männer) aus allen grossen politischen Parteien, darunter viele aktive und ehemalige National-, Stände-, und Bundesrätinnen. Ihre Stellungnahme hat die Alliance F bereits am 10. Mai 2021 an die ständerätliche Kommission für Rechtsfragen übermittelt.


„Schweigen ist kein Ja.
‚Ich bin müde‘ ist kein Ja. ‚Ich bin mir nicht sicher‘ ist kein Ja.
Ein Sichwegdrehen ist kein Ja.
Sondern: fehlender Konsens.
Sex ist, wenn alle zustimmen – alles andere ist Gewalt.“


Zitat aus dem Artikel von Agota Lavoyer (ellexx.com)



Und Anna Göldi?

Sexualisierte Gewalt findet überall statt und es gab sie schon immer. Hier ist auch die Verbindung zu Anna Göldi zu finden. Das Titelbild der Ausstellung zeigt die Darstellung einer weiblichen Person, die nackt, an Händen und Füssen gefesselt, in einen Fluss geworfen wird, für den sogenannten Hexentest: überlebt sie, ist sie eine Hexe (und wird dafür hingerichtet werden), ertrinkt sie, war sie unschuldig. Sexualisierte Gewalt dient in erster Linie der Machtausübung. Die Schwächung und der Missbrauch eines gleichwertigen Gegenübers lassen einen kranken Täter sich allmächtig fühlen, was ihn Euphorie und (auch sexuelle) Erregung fühlen lässt. Die Auswirkungen solcher Machtinstrumente sind unsäglich, schrecklich. Immer wieder finden sie sich in Berichten aus Kriegsgebieten, wo Vergewaltigung systematisch als Waffe eingesetzt wird.

 

Ganz privat

In nahen Beziehungen sind die Auswirkungen von sexualisierter Gewalt oft besonders fatal, da sich Muster einschleichen, die sehr schwer zu durchschauen, geschwiegen denn zu durchbrechen sind. Die Grenze des Zumutbaren zu erkennen und dem Geschehen Einhalt zu gebieten wird laufend verschoben. Wir sind so weit entfernt sowohl von einem klaren Nein wie von einem überzeugten Ja…

Die Beschäftigung mit unserer eigenen Geschichte fördert das Verständnis für unser eigenes, oft ambivalentes Verhalten. Wer von uns hatte als Kind schon die Möglichkeit, Ja und Nein als Worte zu verwenden, die erstgenommen und akzeptiert wurden von Eltern, die uns „trotzdem“ liebten? Für euch füge ich diesen Text hinzu, den ich aus dem amerikanischen Englisch übersetzt habe. Er stammt aus einem Video von Annie Grace und handelt von einem ganz anderen Thema, passt meiner Meinung nach aber in jeden Lebensbereich, wo ein Ja die Zustimmung bedeutet zu etwas, was dir schadet, und ein Nein die Verweigerung von Dazugehörigkeit und Akzeptanz trotz deines vermeintlichen Unwertes.


Hast du jemals „Ja“ gesagt zu etwas, weil „Nein“ zu sagen dich mit mehr Schuldgefühlen erfüllen würde als du meintest ertragen zu können?

Ich auch. Viele Male!

Hast du bemerkt, was passiert, wenn du „Ja“ sagst zu etwas, obwohl du dir wirklich wünschen würdest, du hättest „Nein“ gesagt?

Du gehst in einen Vorbehalt gegenüber der Person, die du zu enttäuschen befürchtet hast mit deinem „Nein“. Deshalb findest du, „Ja“ zu sagen sei im Moment das Beste. Das Leichteste. Der Weg des geringsten Widerstandes.

Du hast also die Wahl zwischen Schuldgefühl und Vorbehalt. Der Unterschied zwischen beiden ist riesig.

Schuldgefühl empfindest du sofort, noch bevor das Wort „Nein“ überhaupt über deine Lippen gekommen ist, weil du dich schrecklich fühlst dabei, jemanden im Stich zu lassen. Schuld ist ein schreckliches schmerzendes Gefühl in deinem Inneren.
Aber es vergeht mit der Zeit.

Vorbehalte aber brauchen Zeit. Vorbehalte sind nach aussen gerichtet. Du fühlst Vorbehalte gegenüber jemand anderem, gewöhnlich gegenüber der Person oder den Leuten, zu denen du „Ja“ gesagt hast, weil du dich nicht schuldig fühlen wolltest.
Und wenn die Vorbehalte wachsen, werden sie mit der Zeit immer tiefer. Sie zerstören die Liebe. Jemanden zu lieben, gegenüber dem du Vorbehalte hast wachsen lassen, ist sehr, sehr schwer.

Der Moment der Entscheidung für „Ja“ oder „Nein“ ist ein schwieriger Moment. Wir wollen uns selber schützen. Aber wenn Vorbehalte das Resultat sind, haben wir mehr Schaden angerichtet, als wir wollten.

Das Schuldgefühl zu wählen bedeutet, dich für dich selber zu entscheiden. Und daran ist überhaupt nichts falsch. Du nimmst deine Entscheidung an als Entscheidung für dich und als Entscheidung dafür, gut zu dir selber zu schauen.
Selbstlos egoistisch
.
Wenn wir gut für uns selber sorgen, können wir auch gut für einander sorgen.

Wenn du dich das nächste Mal versucht fühlst, ja zu sagen um dich nicht schuldig zu fühlen, halte inne und frage dich selber „wie werde ich mich morgen fühlen, wenn ich mich an meine Entscheidung erinnere?“

 


Ich wünsche mir für unsere Gesellschaft und jede einzelne Person darin, dass wir die Fähigkeit finden, Ja zu sagen, aus vollem Herzen, im Bewusstsein der Konsequenzen die dieses Ja haben wird, und im Bewusstsein, dass es immer möglich ist, mit einem Nein dagegen zu halten, wenn eine Entwicklung es erfordert.

Denn: wer A sagt, muss nicht immer B sagen

Wer heute JA sagt, darf morgen NEIN sagen. Ganz nach eigenem Gutdünken.

 

 

Autor

Kulturblogger Glarus

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Kategorie

  • Glarus

Publiziert am

10.04.2022

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www.glarneragenda.ch/PvqMd1