Bild Sasi Subramaniam
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Glarus, Zürich

Neumarkt Gossip in Ennenda

Neulich traf sich im Anna Göldi Museum in Ennenda eine hochkarätige Frauenrunde. In ihrem Mittelpunkt sprach die Philosophin und Feministin Silvia Federici (81) vor ausverkauftem Haus über Gossip, Hexen und Textilindustrie, und warum alle drei zusammenhängen.

von Eva Gallati, Kulturbloggerin

Ein Montag Ende August, in der Abenddämmerung sind mehrere Menschengruppen zu Fuss im Dorf unterwegs, ein ungewohnter Anblick! Sie streben alle auf einen Punkt zu, herkommend vom Bahnhof haben sie verschiedene Routen eingeschlagen. Die Navigations-App auf dem Telefon hilft, das Ziel zu finden. 

 

Wenige Tage zuvor war im Online-Magazin Republik ein Interview mit der feministischen Philosophin Silvia Federici erschienen, dort hatte ich auch vom bevorstehenden Anlass erfahren. Ich wollte unbedingt dabei sein. Damit war ich ganz und gar nicht alleine. Die Zuhörer:innen kamen aus der ganzen Schweiz.

 

Frau Federici sitzt bei den drei Moderatorinnen Tine Milz, Geraldine Tedder und Helen Thomas, sie hört freundlich und gelassen den einführenden Worten von Ursula Helg, der Museumsdirektorin, zu. Das Gespräch wird in englischer Sprache geführt. Silvia Federici wird erst das Wort ergreifen, nachdem alle Moderatorinnen gesprochen haben. Ihre Stimme ist leise, mit einem leichten italienischen Akzent. Während ihres Vortrags wechselt sie mit beeindruckender Mühelosigkeit in ein akzentfreies Spanisch, wenn sie die Namen von Aktivistinnen und Organisationen nennt. Wie elegante Sprünge mutet das an, es ist mucksmäuschenstill im Saal, die Aufmerksamkeit konzentriert auf ihr Gesicht. Silvia Federici ist eines der schönsten menschlichen Wesen, die ich je gesehen habe. Eine schmale, höchst lebendige, von Fans und Freund:innen umringte alte Frau mit dicken Wollsocken in Sandalen. Ihre Augen leuchten, sie geniesst es, mit uns zu sein und zu reden. Mit ihr in einem Raum zu sein vermittelt eine fast intime Nähe, es ist ein Privileg, ihr zuhören und von ihr lernen zu dürfen.

Bild Sasi Subramaniam

 

Warum wieder über die Hexenverfolgung sprechen

 

"Jetzt hört endlich auf damit!" - man muss im Glarnerland nicht lange fragen worum es geht, wenn jemand entnervt diesen Satz ruft. Natürlich um Anna Göldi, die 1782 in Glarus als Hexe verurteilt und hingerichtet wurde. Doch das ihrem Gedenken gewidmete Museum in Ennenda hat es sich zum Glück zur Aufgabe gemacht, auf immer wieder neue Aspekte und ihre Forschungen zu den Gründen hinzuweisen, weshalb im 16., 17. und bis ins 18. Jahrhundert hinein in Europa Frauen als Hexen verfolgt, verhört, gefoltert und ermordet wurden, und weshalb dies in weiten Teilen der Welt wieder zunehmend geschieht. 

 

Es gibt wichtige strukturelle Aspekte der Hexenjagden, die noch immer analysiert und in den entsprechenden soziohistorischen Kontext eingeordnet werden müssen. Silvia Federici hat sich vor Jahrzehnten dafür entschieden, die Hexenverfolgung als eine der Konsequenzen der Grossen Transformation, die zur Etablierung des Kapitalismus in Europa führte, zu erforschen. Ähnliche Mechanismen finden derzeit in weiten Teilen der 3. Welt statt, wo durch Konzerne Land enteignet wird, Menschen obdachlos und in Armut um ihr Überleben kämpfen. Wo die kollektiven Besitzverhältnisse umgestossen werden, heute z.B. in Indien, Afrika, Südostasien und damals in ganz Europa, fanden und finden heute Hexenjagden statt, die viele Tote fordern, vor allem Frauen. Die Parallelen sind offensichtlich. In ihrem Buch „Caliban und die Hexe“ untersucht Silvia Federici diese Zusammenhänge.

 

Gossip – Klatsch?

 

Das Wort Gossip, auf Deutsch als Klatsch, Tratsch und Geschwätz übersetzt, hatte nicht immer die negative Bedeutung, die es heute hat. Es bedeutete zuvor „nahestehende Freundin“. Seine Entwertung fand während der Renaissance statt, wo die Solidarität unter Frauen mit verschiedenen Mitteln gebrochen wurde, zuerst kollektiv, dann mit anderen Mitteln einzeln. Silvia Federici hat der Bedeutung von „Gossip“ in ihrem 2019 erschienenen Buch „Hexenjagd“ ein Kapitel gewidmet, und an diesem Abend im Anna Göldi Museum beginnt sie ihr Referat mit dem Thema Klatsch.

 

„Das Band zwischen Frauen ist ein Kreis“

 

Nirgends redet es sich so gut wie während einer monotonen, repetitiven Arbeit. Spinnen, Weben, Bohnen fädeln, abwaschen. Erzählen, zuhören, zusammen sein. Heute treffen wir uns selten zu Tätigkeiten die viel Zeit in Anspruch nehmen, während dem man miteinander sprechen kann. Gossip ist so wichtig, weil er einen sozialen Raum schafft, in dem wir als Frauen unsere Verbindung pflegen. Hier dürfen wir Bedenken äussern, einander warnen, uns lustig machen, Geschichten erzählen. Wer mit wem, wer bekommt was, wer hat was? Aus feministischer Sicht expandieren wir auf diese Weise, von der Einzelnen zu uns Vielen. Gossip war einmal eine intime Waffe gegen die männlich dominierte Macht. Bis ins 14. Jahrhundert durften z.B. in Italien Frauen noch eigenständig vor Gericht ziehen, um einen Mann anzuklagen, der sie angegriffen oder belästigt hatte! #metoo im Mittelalter!

 

Eine Kultur ist verloren gegangen, viele dieser „anspruchslosen“ Arbeiten werden seit langer Zeit von Maschinen erledigt. Die Industrialisierung hat uns das Leben erleichtert und doch vieles weggenommen. Industrialisierung und Kapitalisierung der Macht machen wenige reich und die Masse arm und abhängig. Noch nie war global der Reichtum auf so wenige konzentriert wie heute, und die Armut so weit verbreitet. 

Podium / Bild Sasi Subramaniam

 

Freundinnen treffen sich zum Shoppen oder gehen mit einander ins Kino, schlecht zum Reden! Je kürzer die Mitteilung, desto besser. Keine Zeit für Ausschweifendes, es werden hektisch Tatsachen ausgetauscht, wenn überhaupt. Ein bisschen wie der Unterschied zwischen 20Minuten und einem Buch.

 

Indem Gossip als Bedrohung erkannt, bestraft und gebrochen wurde, z.B, mit der sog. Schandmaske, welche „zänkische Weiber“ tragen mussten, wurde auch die weibliche Solidarität gebrochen, so die These. Während bis ins 16. Jahrhundert Frauen in weiten Teilen der Welt als Weberinnen der Erinnerung galten, welche mit ihren von Generation zu Generation weiter gegebenen Geschichten eine kollektive Identität erschufen, bedeutet Klatsch heute leeres Gerede ohne Wissen, Kritiksucht, Neid, Streitsucht, Verbreitung von Gerüchten etc., mit dem Ziel, absichtlich Schaden anzurichten. „Frauen unter sich haben nur Unsinn zu schwatzen“. Gleichzeitig fand die Kontrolle des medizinischen Wissens und ihrer Anwendungen durch Männer statt. Frauen wurde der Mund verboten, ihr Wissen war nichts mehr wert.

 

Freudvolle Militanz

 

Trotz der dunklen Vergangenheit und unsicheren Gegenwart ist Silvia Federici alles andere als resigniert. Im Gegenteil strahlt sie Freude und Verbundenheit aus, blickt den Menschen im Publikum in die Augen, macht feine Scherze, z.B. über den „Tanz der Mikrophone“, als bei deren Weitergabe in der Runde ein Durcheinander entsteht

 

Kritik am Kapitalismus

 

Der Kapitalismus will die schnelle Erneuerung, Fortschritt. Heute haben die wenigsten Menschen Zugang zu viel Geld. Es herrscht noch immer keine Lohngleichheit zwischen Männern und Frauen. Frauen arbeiten in kleineren Pensen als Männer, um daneben viel Gratisarbeit zu leisten, und bekommen dadurch im Alter kleinere Renten. Geld als das Symbol der Zivilisation knechte den Menschen, der Kapitalismus trenne Körper, Geist und Seele, mache uns zu Arbeitstieren, sagt sie. In den Pausen dürfen wir das Geld ausgeben, das wir gesammelt haben. Wir kompensieren mit Konsum, arbeiten ohne Freude. „Wenn das, was wir tun, eine Bürde ist, dann tun wir das Falsche!“ sagt sie mit Nachdruck.  Nach dem Referat beantwortet Silvia Federici Fragen aus dem Publikum.

 

Warum werden Hexen als alte Frauen dargestellt?

 

In der längsten Zeit unserer Menschheitsgeschichte wurden alte Frauen als weise Frauen geachtet. Anders heute: die alte Frau wurde als Feindbild aufgebaut und lächerlich gemacht, sie gilt als unproduktiv, hat nichts mehr zu bieten, ist sexuell unattraktiv, körperlich schwach, krankheitsanfällig, wählerisch. Glückliche alte Frauen werden misstrauisch beäugt. Materiell bescheidene alte Frauen haben es schwer. Reiche alte Frauen gelten als verrückt, unsympathisch, gefährlich. Das Verständnis gegenüber jeglicher Art weiblicher Selbstbestimmung, die nicht auf der materiellen Ebene stattfindet, ist nicht vorhanden, weder untereinander noch von der männlichen Seite.

Was meinen Sie zur verbreiteten Selbstidentifikation als Hexe?

 

Der Kapitalismus nutzt alles was ihm nützt. Die Selbstidentifikation als Hexe ist eine Modeerscheinung, dient als Kaufargument für Kurse, Kleidung, Räucherwaren, die Liste ist endlos. Bei allem Spass, den es auch bieten mag: vergesst nicht was es bedeutet, als „Hexe“ zu leiden. Schafft keine neuen Schubladen. 

 

Müssen Frauen einen anderen Umgang mit Geld erlernen?

 

In vielen Märchen werden Frauen angesichts von Armut und Verzweiflung zu Dienerinnen des Teufels, das Gold, das sie sich so erwerben, erweist sich wenig später als leere Blätter, Asche, oder verschwindet ganz. Warum? Die „lehrreichen Geschichten“ wollten uns sagen: Geld und Frauen, das geht nicht zusammen.

 

Wie funktioniert freudvolle Militanz in der Realität?

 

Ein Beispiel: Frauen in schwierigen Situationen haben sich in Spanien zusammengetan, um für gleiche Rechte für Hausangestellte zu kämpfen. Sie bauen freudvolle Momente in ihre Treffen ein, kochen und essen, tanzen, singen, Lieder erfinden. Sie geben einander emotionale Unterstützung, Momente der Nähe, Würdigung und Neugierde für einander.

 

Eine andere Organisation, La Memoria de las Brujas (Erinnerung an die Hexen) arbeitet Geschichte(n) auf, indem sie eine Landkarte erstellt von Orten, an den Hexen ermordet wurden. Vor vier Jahren begannen sie, durch Spanien zu reisen, um die Geschichten zu erfahren und für die Nachwelt zu bewahren. Dies ist eine Bewegung die wächst, die sich über die Welt verbreiten möchte.  Einige Aktivistinnen aus der Gruppe sitzen im Publikum, auf ihrer Liste können sich Interessentinnen eintragen, die mitmachen möchten. Wenn solche Bewegungen entstehen, verändern sie die Welt. Unser eigener Schmerz, unser eigenes Leiden führen uns, leiten uns an. Gemeinsam sind wir getragen von Freundschaft und Beziehung. 

 

Autor

Kulturblogger Glarus

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Kategorie

  • Glarus
  • Zürich

Publiziert am

11.09.2023

Webcode

www.glarneragenda.ch/21n3hq