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Nach dem Erdrutsch: Kultur der Nachbarschaftshilfe
Als der Erdrutsch kam, blieben Barbara und Hans Ryser aus Schwanden genau zehn Minuten Zeit, um ihr Daheim zu verlassen. Nun sind die beiden im Bed & Breakfast "Bergheimat" untergekommen. Gastgeberin Claudia Manser tut alles dafür, dass es auch gesellige Momente in der Hausgemeinschaft auf Zeit gibt.
Genau zehn Minuten blieben Barbara und Hans Ryser, beide 71, als der Erdrutsch kam. In Windeseile packten sie das Nötigste, nahmen die Katze unter den Arm und verliessen Wohnung und Haus fluchtartig Richtung Gemeindhaus, wo sie auf andere trafen. Unterschlupf fanden sie zunächst im Hotel Adler. Die Mundpropaganda spielte, und so zogen sie nach wenigen Tagen weiter ins Bed & Breakfast „Bergheimat“ nach Linthal, zu sechs weiteren Gästen und Mitbewohnern und zu "Hausmutter" Claudia Manser.
Auf dem Wohnzimmertisch in der „Bergheimat“ liegen Mandarinen, Guetzli, Klatschhefte, daneben ein Tagebuch. Reisende aus aller Welt haben hier Kinderzeichnungen und liebevolle Dankesschreiben hinterlassen. Claudia Manser, ausgebildete Pflegefachfrau und Mutter dreier erwachsenen Kinder, liebt ihre Aufgabe als Gastgeberin. Und das, obwohl sie an einer seltenen Krankheit leidet. Seit rund 20 Jahren führt sie das schmucke B&B und „könnte sich nichts Anderes vorstellen“. Fels in der Brandung ist ihr Mann Stefan, der ihr unermüdlich unter die Arme greift und sie unterstützt.
Überteuerte Wohnungen
Dass Menschen aus verschiedenen Kulturen unter ihrem Dach friedlich zusammenleben, ist Claudia ein Anliegen. Für sie zählen Gemeinschaft, Zusammenhalt, Beistand. Und sie will hinsehen, wo ihrer Meinung nach hingeschaut werden muss. Nach der Tragödie in Schwanden habe es viel Solidarität gegeben – aber nicht nur, sind sich Claudia Manser und Hans Isler am Tisch einig. Sie erzählen von überteuerte Wohnungen, in denen Tiere nicht gestattet sind. Auf der anderen Seite gab es Gutscheine für einen Coiffeurbesuch, Geschenkkarten vom Detailhändler, das Märchenhotel Bellevue in Braunwald öffnete einige Tage Tür und Tor für alle, die nicht mehr im eigenen Zuhause bleiben konnten, um nur drei Beispiele zu nennen.
Lobende Worte finden beide für den Einsatz von Feuerwehr und Zivilschutz. „Man hat uns kompetent und empathisch betreut“, sagt Hans Ryser. Einige Tage nach dem Erdrutsch durfte das Paar mit ihrer Gastgeberin nochmals kurz in Wohnung. Ausgestattet mit einem Funkgerät am Körper räumten sie quasi mit der Stoppuhr im Nacken den Kühlschrank, nahmen ihre geliebten Kopfkissen mit und packten eine weitere Kiste fürs B&B.
Zum "Hüttenwart" gemausert
Hans Ryser, pensionierter Gerichtsschreiber, hat sich in der „Bergheimat“ zwischenzeitlich zum „Hüttenwirt“ gemausert. Der vitale Mann packt überall mit an, ob bei der Gartenarbeit, Zimmerreinigung, Frühstückzubereitung oder wenn PC-Aufgaben anstehen. Barbara Ryser ist häufig in der Küche zu finden, wo sie mit Vorliebe auserlesene Mahlzeiten kocht. Beim Gedanken, wieder nach Hause zu kehren, fühlt sie sich unwohl: „Ich habe Angst. Angst, dass wieder etwas Schreckliches passiert!“, sagt sie mit Tränen in den Augen. Sie würde gerne mit jemanden über den Schock sprechen. „Aber es gibt kein Care-Team.“
Das bedauert auch Claudia Manser. Umso wichtiger ist es ihr, hier im B&B eine offene Kultur zu leben. Sie tut alles dafür, dass es ihren Gästen gut geht, fördert das Zusammengehörigkeitsgefühl, lebt Hilfsbereitschaft vor und schaut, dass auch kurzweilige und gesellige Stunden im Haus und Garten nicht zu kurz kommen. Und sie ist da, wenn sich nach dem Gelächter wieder Ungewissheit und Sorgen breit machen.
Barbara und Hans Ryser dürfen bei ihr bleiben, so lange es nötig ist. Und wenn die beiden traurig sind, hat auch das Platz. Hier sind sie fürs Erste angekommen, können aufatmen, zur Ruhe kommen. Mit der Gewissheit, ein sicheres Zuhause zu haben – wenn auch für eine unbestimmte Zeit.
Text und Fotos: Susanne von Dach
Autor
Kulturblogger Glarus
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