Max Frisch rauchte gerne / Foto Eva Gallati
Max Frisch rauchte gerne / Foto Eva Gallati
noch ist da niemand / Foto Eva Gallati
noch ist da niemand / Foto Eva Gallati
Luftbild über Andorra / Foto Adria Sanchez Roque bei unsplash
Luftbild über Andorra / Foto Adria Sanchez Roque bei unsplash

Glarus, Zürich

Mit Andorra meine ich nicht die Schweiz, sagte Herr Frisch

Ende April zeigte das Theater Kanton Zürich in der Aula der Kantonsschule Glarus das Theaterstück „Andorra“ – ein aufwühlendes Erlebnis. Max Frisch schrieb es im Jahre 1961, es hat nichts von seiner Aktualität eingebüsst. Es erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der in einer Pflegefamilie heranwächst. Im Stück geht es um Identität in einer komplizierten Welt.


von Eva Gallati, Kulturbloggerin

Der Jüngling Andri hat sich in Barblin, die Tochter seiner Pflegeeltern verliebt, und sie sich in ihn. Andri möchte Tischler werden und seine Freundin heiraten. Er ist ein eher stiller, in sich gekehrter Typ und ernsthaft bemüht, die Erwartungen an ihn zu erfüllen. Draussen an der Grenze des kleinen Landes steht noch immer der Feind, „die Schwarzen“ genannt. Im Landesinnern regieren Misstrauen und Angst. Man kontrolliert sich gegenseitig.
 
Das Bühnenbild ist schlicht, es erinnert an einen öffentlichen Ort, vielleicht an das Wartezimmer in der Notaufnahme eines Spitals in den 50er Jahren. Die Farben der Wände sind etwa so wie früher die Haushaltmaschinen: weisslich gelb oder grünlich weiss. An den Wänden sind Stühle aufgereiht, darauf sitzen weiss gekleidete Männer und Frauen. Die Gesichter der einzelnen Personen werden bei ihrer Vorstellung und Einführung in die Handlung gross und hell in Farbe an die Rückwand des Raumes projiziert. Auf den Fotos tragen sie ihre Alltagskleidung: Uniform, Kostüm, Talar, Arbeitskleider. Diese Wand dient während des ganzen Stückes auch immer wieder als Filmleinwand.
 
Vorhang auf!

Das Licht geht an. Am Boden liegt zusammengekrümmt ein Mensch und setzt sich auf, als eine junge Frau hinzu tritt und sich zu ihm kniet, sie begegnen sich zärtlich. Barblin taucht ihre Hände in einen Topf mit weisser Farbe und bemalt ihre beiden Gesichter. Andri lässt es traurig geschehen. „Ich weissle“ ruft Barblin mit Verzweiflung in der Stimme.





Es ist laut, hektisch, gewalttätig, es wird geschrien und getrampelt. Man möchte sich in Sicherheit bringen, denn das fühlt sich an wie echt! Wut, Verzweiflung, Anklage. Der Drive wird anhalten bis zum Schluss. Ich schreibe kein Wörtchen auf, atemlos verfolge ich Szene um Szene, bin verwirrt, erschrecke dauernd, fühle mit. Filmprojektionen zeigen Schweizerfahnen, Zeugenaussagen mit eingeblendetem Namen und Beruf, Panzer, Shoppingparadiese, Wälder, Seen…. Auf der Bühne leiden die Protagonisten an ihrem Leben, vor allem die zwei Jungen, Barblin und Andri. Sie ergreifen das Wort in der Absicht, sich und ihre Bedürfnisse zu verteidigen, ihre Wünsche und Bedenken zu äussern, ihr Leben auf die Reihe zu kriegen, erwachsen zu werden. Das hat wenig Platz, denn das Aussen ist wichtiger: Krieg, Konkurrenz, Kontrolle, Rechthaberei, Schuldzuweisungen. Die Erwachsenen, Soldat, Lehrer, Pfarrer, Geselle etc., sind mit ihren eigenen Dingen beschäftigt, das junge Leben stört.

Der Fremde
 
Seit früher Kindheit weiss Andri, dass er „anders“ ist. Sein Ziehvater hatte ihn, den Judenbuben, aus dem verfeindeten Nachbarland gerettet, um ihn wie ein eigenes Kind aufzuziehen, so wurde es Andri beigebracht. Es ist nicht einfach, ein Aussenseiter zu sein, nirgends wirklich zugehörig. Er ist ein Sündenbock, eine Zielscheibe für Spott und der Gegensatz zur Rechtschaffenheit der Eingesessenen. Dem Charakter des Jungen werden „typisch jüdische“ Eigenschaften angedichtet, damit wundert es niemanden, dass sie sich scheinbar bald bestätigen: er sei ungeeignet für den handwerklichen Beruf. Andri verliert unverschuldet seine Lehrstelle, mit der Empfehlung, es in der Verkaufsabteilung zu versuchen. Er hatte doch aber den perfekten Stuhl geschreinert, nur: der wurde dem langjährigen Gesellen zugeschrieben, der sich nicht getraut, das Missverständnis zu klären. Nach diesem unverschuldeten Scheitern wird das Leben von Andri chaotisch. Eine fremde Dame taucht auf, die sehr freundlich zu ihm ist. Sein Pflegevater reagiert verstört, als Andri um die Hand von Barblin anhält.

 



Andorra, der Kleinstaat in den Pyrenäen, bietet als Ferienbeschäftigungen Shopping von Luxusgütern an, Wandern und Skifahren. Es hat Berge, Dörfer. und Seen. Das kann man über die Google-Suche schnell herausfinden; auch andere Besonderheiten kann das kleine Gebirgsland vorweisen. „Aha, das ist ja demfall fast wie bei uns!“, merkt der Zuschauer voller Freude an seiner spitzfindigen Gabe, das Wesentliche sofort zu erkennen, mit hochgezogenen Augenbrauen an. Die Inszenierung befördert eher solche Interpretation, als sie von Anfang an im Hintergrund zu belassen. Das ist eigentlich schade, aber auch sehr verführerisch: wie sonst nimmt man die Zuschauer:innen schneller ein, als mit den bekannten Bildern. Wir haben uns ja auch schon unsicher gefühlt in unserem System, klagten, dass unsere Bürgerrechte missachtet würden, dass nur Geld wichtig sei und die Freiheit nichts mehr gelte…




 
Kontrolle nach innen, Abschottung gegen aussen
 
Max Frisch entwickelte das Modell „Andorra“ schon im „Tagebuch 1946-1949“: „Andorra ist ein kleines Land, sogar ein sehr kleines Land, und schon darum ist das Volk, das darin lebt, ein sonderbares Volk, ebenso misstrauisch wie ehrgeizig, misstrauisch gegen alles, was aus den eigenen Tälern kommt. […] Die andorranische Angst, Provinz zu sein, wenn man einen Andorraner ernst nähme; nichts ist provinzieller als diese Angst“ (Beginn des Textes „Marion und die Marionetten“).
 
Diese misstrauische, ehrgeizige Haltung entlarvte Frisch als Gefahr, denn sie vermeidet ein Wachstum nach innen, eine wache Auseinandersetzung mit den Herausforderungen des Lebens und den darin vorkommenden Menschen. Provinziell ist es, sich am Unerreichbaren zu orientieren, sich klein und nichtig zu fühlen, auf den grossen Lottogewinn, auf die Beförderung, auf die Pensionierung zu warten und DANN alles zu ändern. Aber doch nicht jetzt, hier, zusammen mit diesen langweiligen, immer verfügbaren, netten Leuten im Dorf!

 



Ein Zitat von Max Frisch, an das ich mich noch heute fast wörtlich erinnere, lautet: „Du sollst dir kein Bildnis machen, heisst es, von Gott. Es dürfte auch in diesem Sinne gelten: Gott als das Lebendige in jedem Menschen, das, was nicht erfassbar ist. Es ist eine Versündigung, die wir, so wie sie an uns begangen wird, fast ohne Unterlass wieder begehen - Ausgenommen, wenn wir lieben.“
 
Oder im Buddhismus: „Du kannst nicht zwei Mal am gleichen Fluss sitzen“
 
Die Lüge

Andri wird plötzlich gewahr, dass er angelogen wurde (und mit ihm auch Mutter und Schwester). Er ist nämlich gar kein Jude, sondern das uneheliche Kind aus einer früheren Beziehung seines Vaters, des Lehrers. Doch niemand, auch nicht er selber, ist imstande, das „Bildnis“ von ihm zu ersetzen durch die neu gewonnene Einsicht, und ihn dabei zu unterstützen, ihre Konsequenzen anzunehmen. Irritiert, verunsichert wenden sich alle von ihm ab, oder sie wollen mit ihm in gewohnter Weise umgehen. Er aber lehnt alles und alle ab. Andri wird so zum Zielobjekt von Hass und Angst und zum Schuldigen am Kontrollverlust.
 
Wer bestimmt, wer und wie du bist?
 
Wie interpretiert dein Gegenüber deine Worte, und bist du frei, eine Andere zu werden, dich zu erneuern? Oder bist du nur eine Figur, die eine Rolle zu spielen hat als Projektionsfläche, mit vorgegebenem Text, der, wenn du dich nicht an ihn hältst, einfach umgedeutet wird? Macht es jemandem Angst, wenn dir plötzlich Flügel wachsen? Fürchtest du dich vor Erfolg? 
 
Wenn mich in meinen jungen Erwachsenenjahren unterwegs Panikattacken befielen, nahm ich ein kleines Büchlein aus der Tasche, es begleitete mich überall hin. Es war die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“.
 
Andri wird wegen Mordes zum Tode verurteilt. Das Stück endet damit, dass Barblin alle Weissen tötet. Man kann diese Szene auch als Verkörperung der Worte deuten: "Für mich seid ihr gestorben!" - So wie sie für ihre Familie gestorben ist. Auf der Grundlage von Lüge und Kontrolle ist keine Liebe möglich. Barblin schlüpft aus ihren weissen Kleidern und geht in Jeans und Pulli hinaus in die Welt –  in ein Leben, das sie selber gestalten kann. Ihr trauen wir das zu, der gutherzigen, verletzlichen, mutigen jungen Frau.

Doch wie geht es daheim weiter, in „Andorra“…?

Warmen Dank an die wundervolle Equipe des Theater Kanton Zürich für die emotionale Vorstellung im kleinen Bergkanton!
 

Autor

Kulturblogger Glarus

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Kategorie

  • Glarus
  • Zürich

Publiziert am

11.05.2023

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