Ausstellungsplakat
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Videopräsentation
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Glarus

Internationale Videokunst im Kunsthaus Glarus

17 internationale Künstler*innen zeigen zum Thema "Tourism" ihre Arbeiten. Es geht um "Bewegung" in verschiedenen Bereichen. Die Besucher*innen können sich auf interessante, hintergründige Darstellungen einlassen

Die Ausstellung „Tourism“ bringt im Kunsthaus Glarus Videoarbeiten von 17 international ausgerichteten Videokünstler*innen zusammen.  Das Plakat der Ausstellungsankündigung verleitet zur Annahme, dass der Tourismus mit seiner weltumspannenden Bedeutung beleuchtet oder hinterfragt wird. Aber, es sind nicht die Anzahl touristischer Ankünfte von rund 1,2 Mrd Menschen gemeint, die 5% der Klimaerwärmung verursachen und rund 11% der weltweiten Ressourcen verantworten. Anders gesagt, dass die Menschen zerstören, was sie lieben.


Ein roter Faden der Ausstellung ist das Thema „Bewegung“, was eben auch mit „Tourism“ gemeint ist. Früher hat das Wort „Fremdenverkehr“ deutlich signalisiert, was mit Bewegung, drehen oder wenden gemeint ist. In unsere aktuelle Zeit passt, dass sich das Thema „Bewegung“ auch mit der Pandemie verbinden lässt, weil die „kreisförmigen Bewegungen“ nicht möglich sind. Wir können nicht ins Ausland reisen, wir können aber über uns hinausdenken, ohne den Blick auf das Meer oder auf fremde Landschaften.


Die Arbeiten der Künstler*innen haben eine innere Ausrichtung. Die Betrachter*innen müssen sich mit den Hintergründen der Arbeiten beschäftigen, damit die Botschaften der Videos aufgeschlüsselt werden können. Die Auseinandersetzungen mit dem Thema bauen auf dem Prinzip des Versuchs und Irrtums auf und bieten einen Ansatzpunkt zur wissenschaftlichen Arbeit. Gegenwärtige Videotechnik wird bei den Arbeiten vielfältig eingesetzt, so dass unerwartete Erscheinungsformen für unsere Wahrnehmungen entstehen.


Ich habe aus meinem Rundgang durch die Ausstellung ein paar Arbeiten subjektiv herausgegriffen, meiner Intuition folgend und darauf achtend, was bei mir persönlich angeklungen ist. Für das Verständnis ist es eine gute Voraussetzung, wenn der/die Besucher*in einen guten Zugang zur englischen Sprache hat. Die Videos sind gekennzeichnet durch bewegte Bilder und nehmen die grosszügigen Räume des Kunsthauses ein. Die Ausstellung spielt mit Verschiebungen von Zeitlichkeiten. Die Technik der Montage von computergenerierten Bildern und unterlegtem Sound ist eine Form der kritischen Auseinandersetzung mit Widersprüchen in unserer Gesellschaft.


Jordan Lord – lebt und arbeitet in New York – präsentiert eine 1-Kanal Videoprojektion „After…After“, 2018. Sein Filmessay dokumentiert die kürzlich erfolgte Operation am offenen Herzen und konfrontiert diese Erfahrung mit der Unzugänglichkeit dieses Mediums für Zuschauer*innen. Der Film thematisiert Zugänglichkeit als Vorbedingung des Filmes selbst. Das Werk ist in den Räumen des Kunsthauses und gleichzeitig auf der Webseite des Kunsthauses sichtbar. Die Prämisse, dass man zu einer bestimmten Zeit physisch präsent sein muss, wird unterwandert. Wir werden gezwungen uns zu fragen, wann wir wohin gehen können, um unser Selbst oder dessen Präsenz abzustreifen und hinter uns zu lassen.


Asta Lynge – lebt und arbeitet in Kopenhagen – präsentiert ein 1-Kanal Video, „Site Seeing“, 2014. Ein Bildausschnitt bewegt sich über einen schwarzen Hintergrund im Rhythmus von hektischen Kamerabewegungen. Es entstehen verzerrte, unruhige Bilder des Times Square in New York. Jedes Einzelbild ist von Hand skaliert und im Gesamtbild eingefügt. Durch die Bewegung entsteht eine Art Kartografie des Time Square. „Site Seeing“ erzeugt eine direkte Entsprechung zwischen dem präsentierten Ort und den Positionen der Bilder auf dem Display.


Stuart Middleton – lebt und arbeitet in Glasgow – präsentiert ein 1-Kanal Video, „The Human Model“, 2021. Eine Handpuppe von Steiff in Affengestalt tanzt zu einer Live-Aufnahme von Rod Stewarts Song „Maggie May“. Diese Stofftiere haben heute hohe Sammlerwerte.  Der Künstler denkt über die Funktion von Spielwaren als Surrogat nach. Stofftiere haben in der Erziehung der Kinder einen hohen Stellenwert und stehen für Liebe. Der Künstler hat diverse Affenplüschtiere ersteigert, alle mit deutlichen Spuren des Gebrauchs. Die Tiere haben einen Bezug zu entwicklungspsychologischen Modellen. In den 50iger Jahren versuchten Wissenschaftler „Liebe“ zu quantifizieren. Dafür sind Primaten systematisch traumatisiert worden, indem sie mit ihren Experimenten die Folgen sozialer Isolation und einer frühen Trennung zur Mutter erforschten. Der Beweis der Wichtigkeit von Fürsorge und der Begleitung für das frühkindliche Gedeihen ist damit erbracht worden. Aber auch, dass sich Trennungen von der Bezugsperson verheerend auf das Kind auswirken können. Die kognitive und emotionale Entwicklung wird in Frage gestellt. Liebevoller Kontakt und Beachtung sind für die Entwicklung von Kindern von grosser Bedeutung. „Maggy May“ hat der Künstler auch als Soundtrack ausgewählt, weil es die zwiespältigen und widersprüchlichen Gefühle eines Jungen ausdrückt, der in eine ältere Frau verliebt ist, eine Ersatzmutter. Der Song soll auf persönliche Erfahrungen von Rod Stewart zurückgeführt werden können. Hier klingen auch die Komplexe aus der analytischen Psychologie von C.G. Jung und der Psychoanalyse von S. Freud an. Diese Forscher gehen davon aus, dass es das Inzesttabu gibt und der Elektra- und Ödipuskomplex damit zusammenhängen. „Elektra“ beschreibt den Grundkonflikt der Mutter-Sohnbeziehung zum Vater, „Ödipus“ den Grundkonflikt der Vater-Tochterbeziehung zur Mutter.


Phung-Tien Phan – lebt und arbeitet in Essen – präsentiert ein 1-Kanal-Video, 2020.  Das Video geht davon aus, dass Menschen „Vintagezeug“ lieben. Gemeint sind Menschen aus allen Schichten, wie Reiche, Alte, weiss-rassifizierte Menschen, die so tun als wären sie arm, den Flixbus nehmen, Fahrrad fahren oder schnell einen Trip zur Biennale in Venedig unternehmen. Sie lieben die Jagd nach Vintage, ohne Bargeld für ein Trinkgeld dabei zu haben. Sie googeln und richten sich nach dem Prinzip „je günstiger, desto besser“.  Hier klingt eine Haltung zu Tourismus an, der Städte für die Bewohner unbewohnbar macht und weiter zerstört, was wir eigentlich lieben. Eine traurige Bilanz, die im Video „Girl at Heart“ anklingt.


Steve Reinke – lebt und arbeitet in Chicago – präsentiert ein 1-Kanal Video, „Squeezing Sorrow From an Ashtray“, 1992 – Der Hintergrund seiner Arbeit ist, dass wir wissen, dass die Luft voller Vibrationen ist.  Es geht um den Versuch, Klänge aus einer unhörbaren Umgebung zu nutzen. In unserer Umgebung sind Objekte nicht einfach begreifbar. In Wirklichkeit handelt es sich um Prozesse. Beim Aschenbecher geht es wirklich um einen Gegenstand. In einem schalltoten Raum, kann dem Gegenstand vielleicht zugehört werden. Die Bedeutung der Natur durch Musik und Töne kann so erkundet werden. Sensoren im Raum zeichnen die Klangwellen auf. Die Daten werden an einen Computer übermittelt, der die ursprünglich eingespeisten Klangwellen von den gemessenen Klängen subtrahiert, so dass die übriggebliebenen Daten den Eigenklang des Objekts darstellen. Ein kristalliner Aschenbecher hat tatsächlich Töne erfahrbar gemacht. Wahrscheinlich hat dies mit der Struktur des Kristallgitters zu tun. Bei anderen Aschenbechern hat sich diese Erfahrung nicht eingestellt. Vielleicht wären mit anderen Algorithmen auch hörbare Ergebnisse entstanden. Aschenbecher können also vielleicht „musikalisch“ sein. Ein Ansatz des Experimentierens, der Wissenschaft und Kunst einander näherbringen kann.


Eine Ausstellung, die von den Besuchern*innen Phantasie und Geduld abverlangt. Bei einer intensiven Auseinandersetzung mit den gezeigten Videos können sich Überraschungen einstellen oder Rätsel aufgegeben werden , die uns mit unserem „Nicht-Wissen“ konfrontieren.


Eduard Hauser  

Autor

Kulturblogger Glarus

Kontakt

Hauser Eduard
Blogger
Biäschenstrasse 10
8872 Weesen
hauser.eduard@gmail.com
079 375 81 99

Kategorie

  • Glarus

Publiziert am

09.04.2021

Webcode

www.glarneragenda.ch/TQiTmF