Glarus, Zentralschweiz, Zürich, Ostschweiz

Hommage an Schwanden und spannendes Psychogramm eines Narzissten

Der dritte Roman der in Rapperswil-Jona wohnhaften Autorin Doris Walser „Alma und Zina“ spielt zu grossen Teilen in Schwanden GL und beleuchtet eindrucksvoll die Blütezeit der Textilindustrie am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Am 3. Juni war in Glarus Buchvernissage.

Der zweihundertseitige Roman „Alma und Zina“ weist im Anhang ein reichhaltiges Quellenverzeichnis auf. Die Autorin Doris Walser hat im Glarnerland ausführlich recherchiert, u.a. im Landesarchiv Glarus und im Glarner Wirtschaftsarchiv Schwanden, beim Schwandener Verein Gukum und bei der Brauerei Adler. Ebenso am zweiten Schauplatz des Buches, in Herisau und Umgebung. Das macht die Erzählung sehr lebendig. Ich kenne die Textilindustrie in Schwanden nur als interessantes kulturelles Erbe, seit der Lektüre sehe ich da auch Menschen vor mir: Druckerinnen, Färber, Streichkinder in Aktion, höre die Geräuschkulisse der Walzen, sehe die beschriebenen Farben vor mir. Auch das Buchcover, im oberen Teil eine kolorierte Fotografie von Schwanden um 1900, lockt die Vorstellungskraft hervor; im unteren ist die Schwarzweissaufnahme eines belebten Markttages  in Herisau zu sehen.

Die Autorin ist 1956 im Kanton Appenzell geboren und dort aufgewachsen, was die gute Ortskenntnis ihres zweiten Schauplatzes mit erklärt. In ihrer Familie besteht eine direkte Linie von drei Generationen Vorfahren, die in der Stickerei tätig waren. Auch ihre ersten beiden Romane spielen in diesem Milieu. Der dritte ist nun ein Glarner Produkt geworden, da er im Th. Gut Verlag erschienen ist, dieser gehört Baeschlin-Lesestoff-Gruppe. Betreut wurde die Entstehung des Buches von Verlegerin Gaby Ferndriger und Lektorin Melanie Gerber. Gerber führte auch bei der Buchvorstellung am 3. Juni im Buchladen Baeschlin Glarus das Gespräch mit der Autorin. Diese erzählte grad am Anfang, wie sie zum Schreiben gekommen sei: Ursprünglich im Bereich Informatik tätig, wollte sie nach der Pensionierung 2018 etwas anderes anfangen und es habe sie sehr gereizt, für historische Romane zu recherchieren. Ob es Vorbilder oder Annäherungen zu den im Buch vorkommenden Personen und Situationen gab, bleibt das Geheimnis der Autorin; nur so viel verrät sie: Den Namen der Hauptfigur Alma lieh ihr eine sehr sympathische Glarnerin. Die grosse Zeitspanne des Romans über 150 Jahre wird durch einen erzählerischen Kunstgriff überbrückt: Es gibt eine Rahmenhandlung um die zweite Hauptperson Zina. 1965 setzt sie ein, wo die Ich-Erzählerin aus ihrer Kindheit erzählt. Damals hatte sie eine enge Beziehung zu ihrer betagten Nachbarin Zina, welche nach der in Schwanden aufgewachsenen Alma denselben krankhaft narzisstischen Mann geheiratet hatte. So erfährt man mit dem lauschenden Mädchen nach und nach Almas ganze Geschichte und auch, wo Zina herkommt; sie ist eine eingewanderte Süddeutsche. Am Ende des Buches sind wir im 2014 angelangt, auch Zina ist längst gestorben – und doch gelingt es der Ich-Erzählerin erst jetzt, den letzten Puzzlestein der Geschichte um die zwei tragischen Ehegeschichten der Frauen zu finden. Und in den allerletzten Zeilen wird zudem ein kleines hübsches Geheimnis überraschend gelüftet…

In den Lesestellen und im Fragespiel während der Buchvernissage gelingt es der Autorin, neugierig zu machen und doch nicht zu viel zu verraten. Nebst Passagen, die im Textilmilieu in Schwanden spielen, nimmt sie uns auch mit ins verheissungsvolle appenzellische Heinrichsbad, wo Alma, mit 22 immer noch ledig, endlich einen Mann kennenlernen soll und sich schliesslich in den smarten Coiffeur Oswald verliebt. Dass die Ehe sich bereits einen Tag nach der Hochzeit auf eine Katastrophe zubewegt, wird in der letzten Leseprobe klar, wo Walser eindrücklich das subtil zerstörerische Verhalten eines sogenannt vulnerablen Narzissten schildert. Nach traumatischen Ehejahren droht Alma am Schluss fast den Verstand zu verlieren – und Schwanden wird zum Ort ihrer Rettung. Auch Zina trägt Narben aus der brutalen Beziehung davon, hat sich am Ende aber ihren Lebensmut bewahrt und ist aufgehoben im Kreise ihrer grossen Familie. Ausserdem ist sie eine leidenschaftliche Köchin schwäbischer Spezialitäten, von deren Zubereitung ebenfalls im Buch erzählt wird. 

Die Liebe zum Detail in „Alma und Zina“ sowie das spannende Psychogramm eines Narzissten – auch heute noch könnte jemand so beschrieben werden – machen es speziell und lesenswert. Zu hoffen ist, dass es – dem Titel zum Trotz – nicht nur Frauen lesen. Die Männerfiguren sind ebenso interessant, ihr Biografien und beschriebenen Berufe. Die als sehr liebevoll geschilderten engen Beziehungen von Alma zu ihren beiden Grossvätern und ihrem Vater erwärmen das Gemüt, ein schöner Gegenpol zur Ehehölle mit Oswald. So gibt Grossvater Jenny vom Thon (im Gegensatz zur Mutter Almas, die ihr zum Nachgeben rät) ihr folgende Botschaft mit auf den Weg: „Du darfst auch deine Meinung haben. Es gilt nicht nur, was dein Mann sagt. Hast du dir das schon überlegt?“

Die Kapitel sind kurz gehalten, so dass man sich schnell verführen lässt, noch eins und noch eins zu lesen. Und es macht vielleicht neugierig, selber einmal die beschriebenen Orte in Augenschein zu nehmen und deren Ausstrahlung zu entdecken. 


Text und Bilder: Swantje Kammerecker

Autor

Kulturblogger Glarus

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Publiziert am

06.06.2023

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