Selma Mahlknecht (zvg)
Selma Mahlknecht (zvg)
Flyer Berg and Breakfast
Flyer Berg and Breakfast
Nicolas Ferndriger
Nicolas Ferndriger

Glarus, Graubünden, Ostschweiz

«Ein Meisterwerk zu einem wichtigen Thema»

Am 12. November 2021 findet im Anna-Göldi-Museum eine Lesung mit Podium zum Alpintourismus und seinen Auswüchsen statt. Heuer ist zu diesem Thema ein preisgekröntes Buch der Wahlbündner Autorin Selma Mahlknecht erschienen: «Berg and Breakfast».*

Nicolas Ferndriger organisiert und moderiert den Abend; er bringt die Autorin Selma Mahlknecht mit den Podiumsteilnehmern Fridolin Hösli (Visit Glarnerland) und Corina Geiger (Geschäftsführerin WWF Glarus) zusammen. In Glarus aufgewachsen, ist er selber passionierter Berggänger. Trotz seiner Jugend (Jg. 1995) hat er bereits etliche Auslandserfahrungen gemacht, so bei Aufenthalten in USA und Kanada, während Studium und Arbeit in China und Deutschland. Inzwischen lebt und arbeitet er wieder in der Schweiz, als Wirtschaftsprüfer in der Nähe von Zürich. In seiner Freizeit hält er sich noch immer gerne im Glarnerland in der Natur auf. Bereits in der Schulzeit hat er sich politisch und im Umweltschutz betätigt. 2013 war er Gründungsmitglied des Vereins kulturzyt, für den er schon verschiedene Veranstaltungen moderierte. Zum angesagten Thema hat er sich weitreichende Gedanken gemacht, wie das folgende Interview zeigt: 


Was denkst du über das Buch «Berg and Breakfast», was hat dich daran angesprochen? Nur schon literarisch halte ich es für ein Meisterwerk. Bereits der Einstieg ist eine Ode an die Berge, danach macht die Autorin ein ganz weites Panorama auf. So kommt sie schon bald zur grundsätzlichen Frage, was Touristen von Reisenden unterscheidet. Wir verlieren hier oft aus den Augen, dass der Tourismus ein elitäres (und keineswegs demokratisches) Angebot ist, das den wenigsten offensteht! Selma Mahlknecht geht von den historischen Grundlagen und psychosozialen Hintergründen des Tourismus bis hin zu ganz praktischen Beispielen vor. Weil sie selber an einem heutigen touristischen Hotspot, dem Südtirol, aufgewachsen ist und auch als Wahlbündnerin inzwischen an einem solchen in der Schweiz lebt, hat sie eine Entwicklung miterlebt, die im Glarnerland noch vor uns liegt. Das ist lohnend und kann uns gute Anregungen geben.


Kann man denn, was sie schreibt, auch aufs Glarnerland übertragen? Sagen wir es so: Die Idee, die Natur weitgehend dem Bedürfnis des Menschen zu unterwerfen, die ist bei den steilen Bergen im Glarnerland kaum umsetzbar. Aber natürlich stehen auch hier touristische Projekte zur Debatte, wie etwa das Beschneiungsprojekt Futuro oder die Idee der Fusion des Skigebiets Elm mit Flims.


Du bist ebenfalls sehr in der Natur verwurzelt und hast viele Berge bestiegen. Teilst du die These von Frau Mahlknecht, dass das Bergerlebnis zunehmend „degeneriert“ ist wie ein Wolf zum „faulen Mops“, weil der Berg (zu sehr) touristisch eingerichtet wird? In der Schweiz gibt es wohl ein paar Hotspots wo man das so erlebt, etwa am Pilatus, da kommen jeweils Heerscharen auch von internationalen Touristen, mit entsprechenden Nebenwirkungen wie viel Abfall, Lärm usw. Ich erlebe das schon als degeneriert, wenn Leute die Berge nur konsumieren, ohne den Moment selber zu würdigen! Insgesamt aber nehme ich es in der Schweiz so wahr, dass man solche extrem touristischen Verhältnisse nur an wenigen Orten zulässt – als eine Art «Opfer». Ich denke, dass die meisten, die sich hier in den Bergen bewegen, das Spezielle des Ortes suchen und schätzen, nicht nur die Kulisse. In meinen Augen macht nicht eine Bahn mehr oder weniger den Unterschied, sondern die Werthaltung, welche man der Bergnatur entgegenbringt. Es kommt auch immer auf die Verhältnismässigkeit an: Wenn eine Alp oder ein Bergdorf ohnehin von Menschen bewirtschaftet werden, ist es irgendwie auch okay, einen guten Zugang zu schaffen, nur schon für Leute mit körperlichen Einschränkungen. Hingegen wäre es absurd, eine Gondel zum Tödi bauen zu wollen!


Inwiefern unterscheiden sich da andere Länder von der Schweiz? In China erlebte ich ganz krasse Beispiele, da findest du Berggebiete, die sind wie Zoos für Touristen eingerichtet. Man muss sich registrieren,  kommt nur mit der Gondel dahin, wird dann auf eingezäunten Pfaden durchgeschleust, ein normiertes Erlebnis für die Massen. Das kann man sich hier gar nicht vorstellen, da sind wir auch mit dem überbordenden Klöntal-Hype noch weit davon entfernt. In China werden Berge vor allem auf drei Arten genutzt, entweder für die Holzernte, dann weil oft Tempel zum Beten da oben gebaut wurden – also sind es spirituelle Orte –, oder eben die explizit touristische Nutzung.    


Sahst du die Schweiz und die Alpen mit anderen Augen nach deiner Rückkehr aus China? Interessante Frage! Einerseits, weil ich ja in den Bergen aufgewachsen bin, haben mich automatisch immer gleich die Berge im Ausland interessiert, ob in Asien oder den USA.  Ich fand die Unterschiede faszinierend, z.B. die riesigen Bambuswälder in China. Was mir jetzt erst bewusst wurde: In der alpinen Schweiz haben wir eine einzigartige und wunderbare Mischung aus «Wildnis» und «Zugänglichkeit». Da findet man selten so anderen Kontinenten.


Gibt es im Glarnerland deiner Meinung nach problematische Entwicklungen, also auch punkto Overtourism? Die Nutzung und Erschliessung ist sicher eine Gratwanderung. Einerseits muss man die Natur schützen vor tiefgreifenden und irrreversiblen Schäden. Andererseits, es muss auch alpine Räume geben, die den Menschen z.B. für Bergsport offen stehen, nur schon damit sie diese Naturschätze überhaupt kennen und schätzen lernen können. Wenn ich alles absperren würde, damit die Natur ihre Ruhe hat, wäre es auch kontraproduktiv. Wir leben ja seit Jahrhunderten mit und in diesem Berggebieten und haben sie schon immer irgendwie genutzt. Jetzt kommt es darauf an, und da sind gutes Knowhow, Ideen und Verantwortungsgefühl gefragt, wie wir in Zukunft die Weichen stellen. Vieles kann man steuern. Aus dem Problem des überfüllten Klöntals und Oberseetals, was sich im Corona-Jahr akzentuiert hat, folgten ja auch gute Ideen wie der Tracker von «Visit Glarnerland», welcher offenbar viel genutzt wird, um zu schauen ob es Kapazitätsprobleme gibt und wie man dem früh genug ausweicht, bevor man mit dem Auto umkehren muss.       


Wie hat sich die Corona-Krise ausgewirkt auf das touristische Verhalten? Ich denke, nicht nur negativ. Da man vieles nicht machen konnte, z.B. lange keine Pauschalreisen ins Ausland, musste man sich selber Gedanken machen, wohin man gehen könnte, und wie man das macht. Diese Eigeninitiative finde ich insofern gut, weil man ja mehr Beziehung zu einem Ort aufbauen kann, den man selbstbestimmt erkundet.


Warum bist du selber gerne in den Bergen? Als Kind und Jugendlicher war es für mich auch so etwas wie eine Flucht aus der Enge des Tals nach oben, und aus der Welt begrenzter Möglichkeiten, die in einem eher ländlichen Umfeld gegeben sind. Eine Art Freiheit. Anstatt irgendwo abzuhängen oder in die Grossstadt zu pendeln war das für mich eine gute Freizeitbeschäftigung. Ich habe inzwischen ganz verschiedene Sportarten ausprobiert, muss aber sagen, es liegt mir immer noch am meisten, in der Natur und in den Bergen unterwegs zu sein. Gerade jetzt in meinem Beruf, wo man so viel am Computer ist, wurde es für mich erneut sehr wertvoll, wieder in den Bergen zu sein, das hat mir in Deutschland schon gefehlt. Es ist Regeneration pur! Wir haben hier ein riesiges Privileg.


Was versprichst du dir von dem Abend mit der Lesung und dem Podium, und wie siehst du deine Rolle als Moderator? Wird es Kontroversen geben? Kontroversen, im guten Sinne, auf jeden Fall! Verschiedene Standpunkte stehen ja auch immer für Werte, die man vertritt, die einem wichtig sind. Wichtig ist, miteinander in den Dialog zu kommen. In vielen Fragen gibt es kein entweder-oder, da braucht es die engagierte Auseinandersetzung. Das war mir wichtig, als ich unsere Podiumsteilnehmer*innen eingeladen habe, nebst Frau Mahlknecht auch Herrn Hösli von Visit Glarnerland und Frau Geiger vom WWF. Meine Rolle als Moderator sehe ich so, dass ich Raum für die verschiedenen Perspektiven eröffne, und dazu gehört auch, dass ich das Publikum früh mit einbeziehe. Denn ich denke, von da könnten auch spannende Fragen und Inputs kommen. Und ich möchte aufpassen, dass das Ganze nicht zu sehr ins Politische gerät.


Für die nächste Generation – du wirst ja bald Vater: Wie wünscht du dir, sollte der Umgang mit der Natur (im Glarnerland) sein? Was können wir dafür tun? Alle Eltern sollen sich Zeit nehmen, mit ihren Kindern die Natur zu erkunden und sie zu einem respektvollen Umgang damit zu erziehen. Man kann von der Natur so viel lernen – Gelassenheit, Demut, Stabilität… Im Kreislauf der Natur sind wir ja ein Teil, wir sollten im Dialog mit ihr bleiben, dann bleiben wir auch im Dialog mit unserem Innern. Es ist schon erstaunlich: Noch vor 300 Jahren hat man die Berge als todbringende Bedrohung angesehen, vor 200 Jahren wurden sie dann plötzlich von den Engländern und später auch von anderen Alpintouristen vergöttert und vor über 100 Jahren wurden sie in fast wahnhaftem Rausch erschlossen; mit Einrichtungen wie der Jungfraubahn. Von der heutigen Warte aus und in der Kenntnis dieser Entwicklung können wir, wie Frau Mahlknecht, die wichtigen und richtigen Fragen stellen, um zu einem guten und nachhaltigen Umgang mit den Bergen zu kommen. 


Interview: Swantje Kammerecker


*Buch: Selma Mahlknecht: Berg and Breakfast – ein Panorama der touristischen Sehnsüchte und Ernüchterungen, Raetia Verlag. (Das Buch wurde im September 2021 in Venedig mit dem Anerkennungspreis des Premio Mario Rigoni Stern ausgezeichnet).


Zitate aus den Rezensionen: «In fünf Kapiteln analysiert Mahlknecht mit spitzer Feder, was Menschen in die Berge treibt, wohin das führt und wie der Tourismus nach Corona aussehen könnte.» (Frankfurter Allgemeine Zeitung),«Wer sich auf die Tour durch dieses Buch macht, soll sich wappnen. Mitunter hagelt es Steinschläge oder der Untergrund ist instabil. Festes Schuhwerk im übertragenen Sinn also ist das mindeste.» (Stefan Fischer, Süddeutsche Zeitung),«Die Autorin verwendet Interviews mit Zeitzeugen, um authentisch über „Berg und Breakfast“ zu philosophieren. Eine berührende Quelle ist dabei ihre Grossmutter, die ein Leben lang in Plaus eine kleine Pension geführt hat. Mahlknecht lässt den Gedanken frechen und freien Lauf, ist aber behutsam in ihren Forderungen.» (Helmuth Schönauer),«Mahlknechts Essay ist fern von Belehrungen und Weltuntergangsprognosen. Auf humorvolle und pointierte Art gibt sie interessante Einsichten. Armin Barducci begleitet gestalterisch mit feinem Humor.» (Fadrina Hofmann, Südostschweiz)

Autor

Kulturblogger Glarus

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Publiziert am

07.11.2021

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