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Glarus

Die Kunst der Imitation in der Textilwirtschaft Glarnerland

Das Buch „Die Kunst der Imitation“ von Bettina Giersberg beschreibt mit vielen Stoffbeispielen die wichtige Epoche der Schweizer Industrie- und Kulturgeschichte. Die Entwicklungen im Kanton Glarus sind prominent erwähnt, die Farbigkeit und Formensprache geworbener, bestickter oder bemalter Stoffe werden dargestellt. Glarner Händler und Fabrikbesitzer verkauften diese Stoffe auf der ganzen Welt. Das Buch kann im Freulerpalast gekauft werden.

Aus dem vielteiligen Buch sind die folgenden Aspekte herausgegriffen: Orientalische Farbkünstler, möglichst exakte Kopien, gute Jahre schlechte Jahre, Glarner Tüechli, zwischen Fabrik und künstlerischem Anspruch und Paris und Mailand trugen Glarner Stoffe. Imitationen hat es in der künstlerischen Auseinandersetzung mit kulturellen Inhalten, bis in die Gegenwart, schon immer gegeben. Die Imitation ist eine Nachbildung eines Originals zu dessen Ersatz oder seiner Vortäuschung. Die Glarner Textilwirtschaft hat  Imitationen beherrscht und die Fabrikbesitzer und Händler haben beim internationalen Wettbewerb und Verkauf grosses Talent bewiesen.

Orientalische Farbkünstler

Schon im 17. Jahrhundert sind in Mitteleuropa die leuchtend roten Garne aus Kleinasien, dem osmanischen Reich und Griechenland bekannt und begehrt geworden. Die Fäden waren licht- und waschecht. Durch ihre Farbintensität – „das rote Geheimnis“ – haben sie sich von den bisher bekannten, matten und bräunlich rot gefärbten Stoffen aus Europa abgehoben. Die Kunst der orientalischen Färber, obwohl der gleiche Pflanzenfarbstoff verwendet worden ist, vermochte die Leuchtkraft des Farbstoffs zur Entfaltung bringen. In Mitteleuropa konnte das leuchtende Rot nicht hergestellt werden. Erst Mitte des 18. Jahrhunderts gelang es französischen Textilunternehmern Handwerker aus dem osmanischen Reich und aus Südeuropa abzuwerben, um mit ihrer Hilfe die begehrte Garne herzustellen. Der Zürcher Färber Johann Heinrich Zeller lernte das geheimnisvolle Verfahren kennen und gründete 1784 in Zürich die erste Türkischrotfärberei in der Eidgenossenschaft. Nur wenige Unternehmer waren aber mit dem vielstufigen Färbereiprozess erfolgreich. Die französischen Färber waren Pioniere. Es bestätigt sich, was auch heute Gültigkeit hat. Die Alleinstellungsmerkmale neuer Technologien sind erfolgsversprechend und lösen Nachahmungen und Imitationen aus, die aber nur mit entsprechendem Wissen und Können zum Erfolg geführt werden können.

Möglichst exakte Kopien

Winzige Stoffmuster der Batik-Stoffe, die von Händlern aus Südostasien ins Glarner Tal geschickt worden sind, waren Ausgangspunkt zur Nachahmung der Materialität und Farbigkeit  der indonesischen Handwerksprodukte. Die Dessinateure in den Ateliers der Druckfabriken kopierten die geometrischen, figürlichen und floralen Muster der javanischen Handwerkerinnen und setzten sie als Motive zusammen.  Gleich wichtig wie das exakte Kopieren war die Imitation der Farbigkeit. Die Glarner Koloristen und Textildrucker  nahmen diese Herausforderung an. Sie schafften es, die in Südostasien beliebten holzbraunen und indigoblauen Töne perfekt nachzuahmen. Gedruckt wurden die Produkte im bewährten Handdruckverfahren. Die Baumwollstoffe sind beidseitig bedruckt worden. Mit weiteren Farbvarianten ist der Versuch unternommen worden, die Nachfrage nach neuen Produkten anzukurbeln. Auch hier bestätigt sich, dass Innovationen häufig so entstehen, dass aus bekannten neue Elemente entstehen, die im Markt aufgenommen werden.

Gute Jahre, schlechte Jahre

In den wirtschaftlichen Entwicklungen sind Konjunkturzyklen seit jeher bekannt; „die sieben guten und schlechten Jahre“ gelten, im übertragenen Sinn, als Motto. Alle Firmen durchlaufen Entwicklungsphasen, beginnend bei der Gründung. Die Pionierphase wird abgelöst durch das Wachstum mit Strukturierungsbedarf. Dieser Phase folgt die Reifung, in welcher meist Nachfolgeprobleme gelöst werden müssen, um die Abschwungphase zu verhindern. All diese Phasen sind mit Krisen verbunden. In den 1850-er Jahren installierten Glarner Textildruckereien Handelsniederlassungen oder Zwischenhändler im Ausland. Wenn der Verkauf stockte, wurde die Nachfolgegeneration in die Länder geschickt, um Informationen über die Märkte einzuholen. Im Orient und in Südosteuropa erlebten die Glarner Unternehmer wenig friedliche Jahre. Grosse Teile der osmanischen Bevölkerung und der Balkanstaaten verloren ihre Heimat und konnten in der Folge kein Geld für die neuen Schleier- und Kopftücher aus dem Kanton Glarus kaufen. Der Krimkrieg sorgte für Aufschwung, weil die Bevölkerung des Osmanischen Reichs die stationierten Soldaten der Alliierten mit Glarner Produkten versorgen konnten. In den beiden letzten Jahrzehnten des 19-ten Jahrhunderts bauten die türkischen Textildruckereien ihre Produktion aus. Die Glarner Konkurrenz ist zurückgedrängt worden. Der Aufbau von Handelsbeziehungen mit Staaten des Balkans gelang aber nur selten. In der Folge musste die Glarner Druckerei J.J. Streiff ihre Druckproduktion 1924 einstellen.

Das Glarner Tüechli

Dieses ist ein gern gekauftes, typisches Souvenir mit verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten. Es geht um ein gestalterisches Kodensat der Glarner Textilproduktion und besteht aus Elementen wie dem aussereuropäischen Baumwollstoff, dem türkischen rot und den indischen und orientalischen Mustern. Das Tüechli eignet sich als Halstuch, Schnupf- oder Schweisstuch und war auch Teil der Bekleidung. Eben ein Allzwecktuch. Ein preiswertes Accessoire, welches in jede Garderobe neue Farbtupfer vermittelt. Das Tüechli wird bis heute im Glarnerland gedruckt. Aktuell hat der bekannte Glarner Gestalter, Dafi Kühne, in seinem Atelier in Näfels eine neue grafische Ausdrucksweise für das Glarnertuch entwickelt. Im Blog vom 9.6.2023: „Glühende Farbkombinationen“: www.glarneragenda.ch /Kulturblog wird die Kreation vorgestellt. Die Farbenpracht bleibt auch beim zeitgenössischen Design erhalten.

Zwischen Fabrik und künstlerischem Anspruch

Die Aufgabe der Gestalter:innen war, einen Entwurf anzufertigen, der eine textile Vorlage kopierte oder als selbständige Arbeit die Grundlage für einen bedruckten Soff lieferte.  Der Entwurf musste mit den in der Fabrik genutzten Drucktechniken, mit dem Handdruck umsetzbar sein. Von diesem Entwurf ausgehend, wurden weitere Zeichnungen für den gesamten Druckrapport, für das Stechen der Handdruckmodel oder das Gravieren der Druckplatten angefertigt. Es gab vermutlich nur wenige festangestellte Zeichner:innen. Es sind auch nur wenige Namen dieser Künstler überliefert. Bekannt sind Matthias Speich – 1850 bis 1908 – und Caspar Freuler – 1837 bis 1899. Johann Heinrich Speich – 1813 bis 1891 – ist als Zeichner und Gründer des Schweizerischen Alpenclubs in Erinnerung. In der Mitte des 19-ten Jahrhunderts waren im Glarnerland in 21 Fabriken rund vierzig Zeichner und wenige Zeichnerinnen beschäftigt. Luise Strasser und Erich Biehle kopierten nicht Originalstoffe, sondern schufen eigenständige Stoffentwürfe, die in den Glarner Druckereien umgesetzt worden sind.

Paris und Mailand trugen Glarner Stoffe

Nach dem Zweiten Weltkrieg ist mit weiteren Kunden und Kooperationen der Umsatz verfünffacht worden. Welche Stoffe für welche Kollektionen verwendet wurden, entschieden die Designer. In der Seidendruckerei Mitlödi, die Ende 2023 geschlossen wird, setzte man auf Diversifizierung; das heisst „neue Produkte für neue Märkte entwickeln“, bekannt unter dem Begriff „Innovation“. Eine Strategie, die mit grossen Risiken und geringer Erfolgschance verbunden ist.   Neue Arbeitsbereiche sind dem Betrieb angegliedert worden. Der Ausbau des Sortiments hat zur Stabilität der Umsätze beigetragen. Mit der Gessner AG, Wädenswil, konnten ab 1982 hochwertige Dekorations- und Möbelstoffe ins Druckprogramm aufgenommen werden. Ab den 1960-er Jahren gehörten die hochqualitativen Drucke zu den gefragtesten Produkten der Couturiers in Paris, Mailand und Rom. Die Seidenfirma Abraham verkaufte die Mitlödi-Produkte an Yves Saint Laurent, Christian Dior, Emanuel Ungaro oder Hubert de Givenchy. Die Designer statteten mit den Mitlödi-Stoffen ihre Sommer- und Winterkollektionen aus. Mitlödi erzielte in der Zeit der weit verbreiteten Schliessungen von Schweizer Druckereien gute Umsätze. Nach der Jahrtausendwende war auch die letzte Glarner Druckerei von einer starken rückläufigen Druckproduktion und vom Abbau von Arbeitsplätzen betroffen. Der Blog „Fantastische Stoffe aus Mitlödi“ www.glarneragenda.ch/Kulturblog beschreibt die Ausstellung im Freulerpalast, die sehr sehenswert ist.

Fazit

Eine bewegte Geschichte zu einem wichtigen Kulturgut und Industriegeschichte wird im Buch „Die Kunst der Imitation“ mit reicher Bebilderung und hintergründigen Texten aufgezeigt. Für Interessierte ein Muss, dieses Buch in die eigene Bibliothek zu stellen.

Eduard Hauser

Angaben zum Buch: ISBN: 978-3-03919-575-6, Verlag „Hier und Jetzt“, Zürich www.hierundjetzt.ch 

 

Autor

Kulturblogger Glarus

Kontakt

Hauser Eduard
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hauser.eduard@gmail.com
079 375 81 99

Kategorie

  • Glarus

Publiziert am

10.10.2023

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