Glarus, Ostschweiz

Faszinierendes Spiel mit den Ebenen

Mit fünf ausverkauften Aufführungen im Mai in Betschwanden war das interaktive Theater „Iisziit“ unter Leitung von Beni und Christian Hunziker ein voller Erfolg. Erkundet wurden die Tiefenschichten von „Glarnerseel und Tödifirn“ in einem Kaleidoskop von verschiedenen Szenen.

Zunächst einmal muss man den Mut und die Hingabe bewundern, mit welchen die über 20 Mitwirkenden (grösstenteils Laienschauspielende) bei „Iisziit“ ein Thema anpackten und umsetzten, in dem allerlei Untiefen wie Gletscherspalten lauern: Denn die politischen, emotionalen, religiösen und gesellschaftlichen Verwerfungen des Klimawandels  lösen, umso heftiger dieser an unsere Haustür klopft, massive oder unterschwellige Ängste aus – und diese wiederum Aggressionen, Depression oder Fluchttendenzen. Wie gehen wir damit um, wer hat die Deutungshoheit darüber, was geschieht, und was zu tun ist?  

Das Konzept von Iisziit bringt verschiedene, auch gegensätzliche Stimmen zu Gehör und – ein genialer Kunstgriff ! – schafft es, diese in der grossen Schlussszene zu einem das Zirkuszelt füllenden mehrstimmigen Gesang zu vereinen. Doch bis dahin sind einige Wege zurückzulegen: Äusserlich, mit den Wechseln zwischen vier verschiedenen Spielorten und auch innerlich; geistig-seelisch sozusagen. Die ganze „Reise“ wird durch Musik von Catherine Fritsche und Joline Hunold sensibel und erzählend begleitet. Eine von ihnen gestaltete Szene, im alten Bahnhof, etwa zehn Minuten lang, führt das Publikum in den Bauch des Berges: Hier ist man eingeladen, dessen Klängen zu lauschen und das Erhabene, Geheimnisvolle und auch Bedrohliche des Gletscherriesen sinnlich zu erleben. Was Menschen hingegen über den Tödifirn sagen, ist in einer Auswahl verschiedener Stimmen in einer alten Fabrikhalle zu hören, wobei jedes Publikum der fünf Aufführungen selber entscheiden muss, wem es zuhören will. Hier wird deutlich, dass mensch jeweils nur einen Ausschnitt dessen wahrnehmen kann – und dies mitunter verzerrt – was uns umgibt. Die zwei Szenen im Bahnhof und der Fabrik stehen einander  spiegelsymmetrisch gegenüber, das Publikum wird dafür jeweils geteilt. Und während Anfang und Schluss von Iisziit im Zirkuszelt spielen, bildet die Szene in der Dorfkirche das innere Zentrum – und bringt noch die himmlische Dimension ins Spiel. Die Hilflosigkeit und schlussendlich Demut des Menschen angesichts der bedrohten Schöpfung bricht sich hier Bahn in Klagen und Flehen, aber auch in einer leise aufscheinenden Hoffnung.

Das Publikum betritt die Kirche bei leisen Orgeltönen, die Pfarrerin steigt im Talar auf die Kanzel und beginnt ihre Predigt, welche aber vom „Reiseführer“ Christian Hunziker unterbrochen wird – so wie er auch bereits anfangs des Stücks Clownin Milu unterbrochen hat, die sich nach ihrer Arbeit ins Private zurückziehen will: „Welchen Tag, welche Uhrzeit haben wir jetzt? Genau, es ist Zeit fürs Theater, es ist Iisziit!“ – und erst nach einigem Hin-und-Her, ob man sich jetzt im Theater oder doch im Zirkus (oder eben der Kirche) befinde, führt die Handlung weiter in die nächste Etappe der Tödi-Erkundung.

Das faszinierende Spiel mit den Ebenen, das An- und Nebeneinandersetzen von Szenen aus unterschiedlichen Perspektiven und Zeiträumen sowie die verschiedenen künstlerischen Ausdrucksformen machen das Stück spannend, verlangt aber auch Konzentration. Dagegen kann man beim höchst poetischen Tanz des weissen Gletscher-Drachens einfach nur staunen und geniessen. Oder sich auch immer wieder bezaubern und beschenken lassen vom Strahler (Hanspeter Zweifel), der mit seinem berggängigen Rollator die verlorenen Schätze aufliest und für glänzige Augen sorgt.

An dieser Stelle sind aber auch die übrigen  Mitwirkenden zu nennen: die Seniorengruppe (Mathilde Wyss, Gudrun Teuscher, Freddy Menzi) welche nach 70 Jahren nochmals auf den Tödi will. Die Jugendlichen (Linn Slongo, Jelena Hunziker, Vinzenz Schindler), deren jüngere Version auf ihrer damaligen Bergfahrt. Sie rasten jeweils am selben Ort, nur ist dieser durch den Eisrückgang nicht mehr der Gleiche. Eindrücklich und nur möglich dank Zirkustechnik ist diese Szene mit den über den Älteren schwebenden Jungen (siehe Bild). Dann sind da noch die drei jungen Frauen (June Sporle, Jarel Lucero Diaz, Indaiara Mendonça)  welche von ihrer Lehrerin (Surthy Reveendran) den unmöglichen Auftrag erhalten, die Welt zu retten.

Und Laura Figi und Manja Pietzcker, die den Perspektivwechel mit ihrem Gesang verkörpern – die Bergbauerntochter, die eine Bach-Arie singt und die Dresdnerin mit ihren neu erworbenen Jodelfähigkeiten zeigen, was möglich ist, wenn man künstlerisch neues Territorium betritt. Dazu braucht es natürlich auch Coaches für Gesang (Helen Bieri) und Tanz (Kassandra Chan), sowie Technik (Jonathan Hunziker). Vor allem aber – da wären wir wieder beim Thema Mut und Hingabe – Theaterleute wie Beni und Christian Hunziker und die Mitwirkenden vom Zirkus Mugg, welche so ein künstlerisches Abenteuer wagen. Mitgetragen hat das die Kulturgesellschaft Glarus als Veranstalter.  Nach dem erfolgreichen Stationentheater „Stets in Truure“ der Brüder Hunziker 2021 hat sie dieses Format weiterführen wollen. Und wer weiss, vielleicht wird daraus ein drittes Mal und gar eine Tradition?

Text: Swantje Kammerecker, Bilder: zvg

Autor

Kulturblogger Glarus

Kontakt

Kategorie

  • Glarus
  • Ostschweiz

Publiziert am

07.06.2025

Webcode

www.glarneragenda.ch/R71WRi