Eine Piazza, die Bücher zum Leben erweckt  - 1
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Schreiber an der Buchmesse Leipzig (zvg)
Schreiber an der Buchmesse Leipzig (zvg)

Glarus, Zürich, Ostschweiz

Eine Piazza, die Bücher zum Leben erweckt

Auf der Piazza der Landesbibliothek fanden früher viele Lesungen und Podien statt. Dann kamen Corona und die Renovation des historischen Baus. Jetzt wird die schöne Tradition wieder aufgenommen. So am 12. Mai mit der Werkstatt-Lesung von Sybil Schreibers „Safranhimmel“.

Welche illustren Schriftsteller und Künstlerinnen haben wohl schon auf der Piazza der Landesbibliothek Glarus Gast- oder Heimspiele gegeben? Dieser Ort inmitten der Kantonshauptstadt ist viel mehr als nur eine „Heimatbühne“! Etwa, wenn eine inzwischen prominente Autorin wie Sybil Schreiber zwischen ihren Lesungen an der Leipziger Buchmesse und den Solothurner Literaturtagen hier Station macht. Am 12. Mai las sie aus ihrem zweiten, preisgekrönten Kurzgeschichtenbuch „Safranhimmel“. Am Samstag, 13. Mai, gab sie im MZR einen total ausgebuchten Schreib-Workshop. Damit unterstützt sie u.a. die Glarner Schreibszene und den Wettbewerb „Glarus schreibt.“   


Zurück zur Piazza; ein kleiner Schwenk 20 Jahre zurück: Damals gab es noch den „Verein der Freunde der Landesbibliothek Glarus“, die Lesungen organisierten. Das erste Mal hatte ich damit zu tun, als 2003 eine Lesung samt Werkstattgespräch „Kultur am Berg“ mit dem Autor Emil Zopfi und dem Komponisten Christoph Kobelt dort stattfand. Der Verein fragte mich an, diesen Abend zu moderieren. Es war meine erste Moderation und eine tolle Erfahrung. Denn nebst den inspirierenden Künstlern begeisterte auch das Ambiente:  hell, offen, begegnungsfreundlich – so verleiht der ehemalige Innenhof der alten Glarner Stadtschule, den heute ein riesiges Glasdach überspannt, den literarischen Abenden stets eine besondere Würde.  Anstelle des Vereins, der seine Aktivitäten irgendwann einstellte, sprangen andere Veranstalter in die Bresche. Der Verein kulturzyt, Baeschlin littéraire und auch das Team der Landesbibliothek selber organisieren verschiedenste Angebote: Kinder- und Jugendevents vom Krabbelalter ab bis z.B. zu einer Ausstellung samt Lesung mit Werken Jugendlicher, Podien mit Remo Largo oder Barbara Bleisch; Lesungen mit Elke Heidenreich, Tim Krohn oder Federica de Cesco, Buchvernissagen vieler Glarner Autoren…. und und und! Eine Liste, die sich noch sehr lange fortsetzen liesse. Doch die Coronajahre und die anschliessende grosse Innenrenovation des Gebäudes liessen die Bühne auf der Piazza für längere Zeit verwaisen. Umso grösser nun die Freude, dass sich diese wieder stärker belebt!


Als ich am vergangenen Freitag die Lesung des Buches „Safranhimmel“ von Sybil Schreiber besuche, ist es nur ein kleines Publikum von 20 Personen, aber wir teilen ein einzigartiges Erlebnis miteinander. „Zum ersten Mal im Leben war ich an einer Lesung“, sagt eine Besucherin. Sie zeigt sich überrascht und beeindruckt, wie spannend diese gewesen sei. Was ist es nun aber, das eine Lesung „lebendig“ macht? Einmal natürlich kommt es darauf an, wie gelesen wird. Da gibt es grosse Qualitätsunterschiede, nicht jeder hochkarätige Autor ist auch ein guter Leser. Anders bei Sybil Schreiber: Man merkt sofort, da sitzt ein Bühnenmensch. Vor ihrer Karriere als Journalistin studierte sie Modedesign und besuchte eine Schauspielschule in New York. Mittlerweile ist sie auch eine gestandene Comedienne, die im Doppelpack mit Ehemann Steven Säle füllt und das Publikum mit Worten und Gesten bezaubert, bis kein Auge mehr trocken bleibt. In ihrem literarischen Werk versteht sie es dagegen, das Leise, Untergründige sowohl im geschriebenen wie auch im vorgelesenen Wort wirken zu lassen. Die Atmosphäre ist hier ruhiger, konzentriert und hingegeben, sodass man in fremde Lebenswelten eintauchen kann.


„Habt Ihr etwas vor euch gesehen, einen Geruch wahrgenommen, eine eigenartige Spannung gespürt?“ fragt die Autorin, als sie die erste Tranche der Lesung, aus dem Anfangskapitel, beendet hat. Zwischen dem Lesen sucht sie immer wieder der Dialog mit dem Publikum. „Werkstatt-Lesung“ nennt sich dieses Format, in dem man auch Aufschlussreiches über das „Making-of“, also den Entstehungsprozess des Werkes, und überhaupt zur Arbeit einer Autorin erfährt. Und da geht es durchaus abenteuerlich zu. So wusste Schreiber beim Einstieg in ihren zweiten Kurzgeschichtenband noch gar nicht, welche Figuren darin alle vorkommen würden (es sind so einige) und wie sich diese verhalten würden. Nur der Hauptcharakter, die verschrobene und traumatisierte Hausfrau Barbara und deren Geschichte, stand in groben Zügen vor ihrem inneren Auge. Ausserdem ein Ort, der am See liegt und teils etwas von Zürich, teils von München hat. Schliesslich konnte sie ihrer Hauptfigur und den anderen mehr oder weniger „hinterherschreiben“, das heisst, diese entwickelten ihr Eigenleben. Aber so ein Vorgehen könne auch schiefgehen: Schreiber erzählt, wie sie ein recht weit fortgeschrittenes Buchprojekt aufgeben musste, weil sie auf einmal den Kontakt zu ihrer Hauptfigur verloren hatte.


Fragen aus dem Publikum sind ihr immer sehr willkommen. Sogar so sehr, dass sie vorgesorgt hat, falls es zu wenige gibt: Unter einigen Besucherstühlen kleben Kärtchen mit typischen Publikumsfragen. Die Autorin bittet, diese zu pflücken und nach Bedarf zu stellen. Nach und nach wird klar, wie auch verschiedene andere Menschen auf ihr Buch Einfluss nahmen: Ehemann Steven etwa hat den Titel „Safranhimmel“ gefunden. Er gehörte natürlich zu den ersten Lesenden und hat unter den einzelnen Kapiteln jenes mit „Safranhimmel“ überschriebene als pars pro toto erkannt. Dass aber auf dem Cover nichts Gelbes oder Wüstensandähnliches zu sehen ist, wie sich Sybil erst vorstellte, hat mit dem Verleger zu tun. Der hat die Gesamtkonstruktion des Buches gesehen – alles spielt im mehrstöckigen Haus einer Genossenschaftssiedlung – und dessen „Rückgrat“, das die Geschichten verbindet, mit dem Sujet eines Aussentreppenhauses bildlich umgesetzt. Darin wirkt die einzige gezeigte Person sehr klein, verloren (siehe Cover).  


Wie schafft man es, Figuren lebensecht zu schildern? Zurück zu Barbara, die auch für die wirklich krasse Schlussszene sorgt: Ja, es gab eine Frau, welche einst der Journalistin Schreiber in einer bedrückend düster eingerichteten Wohnung begegnet ist. Aber natürlich ist es nicht deren Leben, das da in „Safranhimmel“ entwickelt wird, sondern sie war nur eine Inspiration für ein denkbares Schicksal. In einem Interview sagte Sybil Schreiber, sie liebe alle ihre Figuren, aber die schrägsten besonders. Scheinbar normale Alltagsituationen können unversehens ins Monströse abrutschen, irrationale Ängste und Begehren brechen sich Bahn. Das ist interessant, denn lauern nicht diese „inneren Abgründe“ in jedem? Das zeigt auch der Topos „Mutterschaft“, der immer wieder im Buch vorkommt und hier – anstatt der bekannten, klischeehaften Bilder und Emotionen – Erschreckendes oder zumindest Befremdliches zutage fördert: Da ist jene junge Künstlerin, die sich nicht als Mutter, sondern als ‚Frau mit Kindern‘ im falschen Film sieht. Oder eine Lehrerin, alleinerziehender Kontrollfreak, die ihren erwachsenen Sohn nur ungern ziehen lässt. Oder eben jene Barbara, die nach ihrem toten Melonenkopfkind kein weiteres mehr bekommt und ihre Puppensammlung hegt. 


Alle diese unterschiedlichsten Leben verbindet der Ort, an dem sie wohnen. „Die einzigen, die alles miterlebt haben, die stehen da und bewegen sich nicht. Wände“, schreibt die Autorin als Vorspann. Sobald man sich als Lesende oder Hörende auf die Geschichten einlässt, scheinen die Wände aber durchsichtig zu werden. So surreal und real zugleich kann Literatur sein. Hoffen wir noch auf viele tolle Lesungen auf der Piazza der Landesbibliothek!


Swantje Kammerecker

Autor

Kulturblogger Glarus

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Kategorie

  • Glarus
  • Ostschweiz
  • Zürich

Publiziert am

15.05.2023

Webcode

www.glarneragenda.ch/giWFK8