Bilder zvg
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Verleger Matthias Haupt
Verleger Matthias Haupt
Kammerorchester Rondino Wittenbach unter E. Schneuwly
Kammerorchester Rondino Wittenbach unter E. Schneuwly
Flavia Andreotti
Flavia Andreotti
Farewell fürs Buch
Farewell fürs Buch
Autor Prof. Mario Andreotti
Autor Prof. Mario Andreotti

Glarus, Zürich, Ostschweiz

Der Longseller des Germanistik-Professors Mario Andreotti

Mario Andreotti, in Schwanden aufgewachsen, feierte am 1.März 2022 die Erscheinung der 6., stark überarbeiteten Auflage seines seit fast 40 Jahren wegweisenden Werks „Die Struktur der modernen Literatur“.

1983 trat die Erstausgabe von „Die Struktur der modernen Literatur“ (utb Haupt) ihren bemerkenswerten Weg in die Fach- und Laienwelt an: Bis heute wurden 30‘000 (fünf Auflagen à 6‘000 Bücher) im ganzen deutschsprachigen Raum verkauft, die Nachfrage ist ungebrochen, die letzte Auflage war fast vergriffen. Und so ist der Autor, Germanistik-Professor Mario Andreotti, dem Anliegen des Verlegers nachgekommen, eine 6. Auflage zu verfassen. Die ist mit nun, mit einigen komplett neuen und  weiteren stark überarbeiteten Kapiteln, mehr als das geworden: ein topaktuelles und umfassendes Werk, dem der schwer zu erfüllende Anspruch gelingt, zugleich fundiertes und konzentriertes Wissen übersichtlich zu vermitteln und dabei nichts an Anschaulichkeit und Lesefreundlichkeit vermissen zu lassen. „Ich habe in diesem Buch mehr gefunden, als ich gesucht habe: ein Buch von unendlicher Brauchbarkeit“, so der Literatur-Star Martin Walser. Andreottis Buch hat eine bewegte Geschichte und ist eng mit seiner Berufsbiografie verbunden. Doch dazu später.

Erst möchte ich nochmals ins 1983 zurückgehen – diesmal mit einer persönlichen Erinnerung: Ich stehe im Vor-Maturajahr in einem Schulzimmer des Goethegymnasiums Essen-Bredeney und soll im Deutsch-Leistungskurs einen Vortrag über den berühmt-berüchtigten „Prozess“ von Franz Kafka halten. Der Schriftsteller hat mich damals schon fasziniert, obwohl ich erst gar nicht recht wusste, warum. Meine Deutschklasse – wir mussten in den 2,5 Jahren vor dem Abitur reihum Referate eines vorgegebenen Literaturkanons vom Mittelalter bis Gegenwart halten –  war nur zu froh, dass sich jemand freiwillig für diesen „schweren Brocken“ gemeldet hatte; ähnlich „unbeliebt“ war nur „Der Zauberberg“. Wir hatten zwar unsere Lehr- und Nachschlagewerke in der Schule, aber mit denen kam ich bei der Vorbereitung nicht weit. Ich war sogar ratloser als zuvor! Damals hätte ich exakt so ein Werk wie Professor Mario Andreottis „Die Struktur der modernen Literatur“ dringend gebraucht. Denn auch die endlose Recherche in den Tiefen der  Essener Universitätsbibliothek nach Sekundärliteratur, damals noch mit Mikrofiches, erbrachte zwar eine Fülle unterschiedlichster Interpretationsansätze – religionsphilosophisch, tiefenpsychologisch, politisch-historisch, sprachlich-semantisch… etc. – aber ein passendes Instrumentarium zur ganzheitlichen Analyse der Oberflächen- und Tiefenstruktur solcher Literatur fehlte offenbar! Und damit der Fokus auf das Wesentliche. Das merkte ich nur schon daran, dass ich damals auch nach meinem Referat kaum eine bessere Antwort auf meine eigene Frage fand, was denn an Kafka faszinierend sei.

Und so ist Jahrzehnte später dieses rote, immer noch handliche, aber mit der Zeit etwas dicker und schwerer gewordene Lehr- und Lesebuch eine Fundgrube für mich geworden: „Die Struktur der modernen Literatur“! Germanistik habe ich nicht studiert, bin aber als freischaffende Autorin und Journalistin dennoch ständig mit Sprache beschäftigt. Und dabei habe ich immer wieder Fragen, auf die ich im Buch sehr fundierte und mit praktischen Beispielen belegte Antworten erhalte. Etwa wenn man in einem Schreibworkshop mit Jugendlichen darüber spricht, was ein gutes Gedicht ausmacht, wenn man im eigenen Schreiben lustvoll experimentiert, oder man über eine Neuerscheinung auf dem Buchmarkt einen nicht nur subjektiv gefärbten Artikel verfassen will. Solche kleinen Beispiele zeigen die hohe Praxistauglichkeit, welche dieses Lehr- und Studienbuch aufweist, das zugleich mit seinem ausführlichen Glossar und vielen systematischen Abbildungen und Tabellen ein Nachschlagewerk ist.

Die gelungene Synthese von Akademischem Wissen und Praxistauglichkeit ist eng mit der Entstehungsgeschichte und der Berufsbiografie des Autors verbunden: Zum einen hat Mario Andreotti eine langjährige Tätigkeit als Gymnasial-Lehrer für Deutsch und Geschichte vorzuweisen,  zum anderen war er bis zu seiner Emeritierung 2017 Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität in St. Gallen. Und noch immer bildet er als Dozent an pädagogischen Hochschulen angehende Lehrpersonen aus und ist Juror bei verschiedenen Literaturwettbewerben (Bodensee-Literaturpreis, Ravicini-Preis Solothurn). Das heisst, er setzt sich bis heute mit den aktuellen Strömungen in der deutschen Literatur auseinander und betrachtet sie aus mehr als einer Perspektive. Andreotti wurde für die Semiotik und den Strukturalismus, die ab den 1970/80-er Jahren eine neue aufregende Epoche in der Literaturwissenschaft kennzeichneten, einer der prägenden Exponenten in der Schweiz und darüber hinaus. Die erste Auflage von „Die Struktur der modernen Literatur“ entstand aus Material von Vorlesungen und Kolloquien, die ab Ende Siebziger Jahre nebst dem Schuldienst zunehmend seine Tätigkeit prägten und schliesslich zur Berufung an die Universität St. Gallen führten. Dr. Max Haupt vom gleichnamigen Verlag bekundete in einem Brief das Interesse für eine Publikation von Andreottis Arbeit. Ob er ahnte, dass „Die Struktur der modernen Literatur“ noch weitere Generationen in seinem Familienverlag beschäftigen würde? Sohn Matthias Haupt begrüsste am 1.März 2022 die 6. Auflage an der Buchvernissage im Haus der Literatur St. Gallen, und erwähnte, dass mit seiner Tochter Patrizia bereits der nächste Generationenwechsel im Verlag bevorstehe.

Zur Buchvorstellung hielt die Germanistin Frau Professor Christiane Matter einen Kurzvortrag. Auch sie als Lehrende an der Mittelschule überzeugt der konkrete Nutzen dieses Buches. Die Neuerungen der jüngsten Auflage erwähnte sie exemplarisch. So etwa mit einem Textbeispiel aus Anna Sterns Roman „das alles hier, jetzt“ (Schweizer Buchpreis 2020), an dem die Merkmale moderner Romane gezeigt werden, aber auch mit neuerer Lyrik (Twittergedicht, Handylyrik, Slam Poetry, u.a.). Parlando-Stil und Sprachwandel durch Digitalisierung werden ebenfalls angesprochen. Damit werde aber der Einfluss früherer literarischer Epochen und ihrer Werke keinesfalls vernachlässigt. Vielmehr bedingt und ermöglicht das Wissen um sie gerade in der modernen Literatur eine fruchtbare Auseinandersetzung, ein virtuoses Spiel mit ihren inhaltlichen und formalen Elementen – z.B. mit Verfremdungen, Umdeutungen, spannungsvollen Brüchen. Dazu gibt Andreotti gut gewählte Beispiele an. Eine weitere Ebene bringt der vielseitige Intellektuelle und auch naturwissenschaftlich interessierte Autor ins Buch ein, indem er auf die geistigen Kräfte und Erkenntnisse unserer Epoche und ihre Wirkung auf die Literatur eingeht (bis hin zu Malerei und Musik!). 
 
    

So ist es auch mehr als stimmig, dass die Vernissage mit Live-Musik umrahmt wird: Das Kammerorchester Rondino Wittenbach führt eine Eigenkomposition seines Dirigenten Erich Schneuwly auf, welche in diesem Arrangement für Streicher erstmals erklingt. Mit den Sätzen „Hölle –  Fegefeuer – Paradies“ bezieht es sich auf Motive aus Dantes Göttlicher Komödie, doch die Umsetzung ist keineswegs klassisch, - eben zeitgenössisch! Die einführenden Worte zu diesem Werk  von Mario Andreottis Tochter Flavia, wie ihre Mutter Geigerin in diesem Orchester, werden begleitet durch zwei von Andreottis kleinen Enkelinnen gemalte Bilder, die per Beamer projiziert werden. Der Best- und Longseller ist auch ein Stück Familiengeschichte: Ehefrau Katalin unterstützte den Autor bei der kritischen Durchsicht seiner Manuskripte, half bei der ersten Auflage sogar beim Tippen.

Zur Vernissage hat sich ein grosses, vielfältiges und teils weitgereistes Publikum (sogar aus dem Ausland) versammelt. Auch im heimatlichen Bergkanton Glarus, Andreotti wuchs im Dorf Schwanden des heutigen „Glarus Süd“ auf, dürften sich die Freunde der Literatur über die bespiellose Karriere seines Werkes freuen; stolz, dass es einen derart profilierten Germanisten und erfolgreichen Autor hervorgebracht hat. Mario Andreotti selber zeigte sich glücklich und dankbar am Tag der Vernissage. Er entliess sein Buch in die Welt mit folgendem Satz „Nun fahr wohl, Schiff, mit der ‚alten‘ und der neuen Fracht – hin zu Leserinnen und Lesern, denen allen ich eine ertragreiche Lektüre wünsche.“       

Swantje Kammerecker 

Autor

Kulturblogger Glarus

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Kategorie

  • Glarus
  • Ostschweiz
  • Zürich

Publiziert am

05.03.2022

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www.glarneragenda.ch/vV5gSy