Christliche Literatur: ein totes Ross? - 1
Christliche Literatur: ein totes Ross? - 1
Christliche Literatur: ein totes Ross? - 1
Mario Andreotti referiert in Glarus
Mario Andreotti referiert in Glarus

Glarus, Ostschweiz

Christliche Literatur: ein totes Ross?

In einem kürzlichen Vortrag in Glarus  ging es um die schwierige Beziehung von Moderner Literatur und Christentum. Der Referent, Professor Mario Andreotti, stellte dabei auch konkrete Beispiele zeitgenössischer Autoren vor. Eines, das Theaterstück «Andorra», lässt sich übrigens am 29.4. in der Aula der Kantonsschule erleben.

Am 17. Februar 2023 fand sich im Evangelischen  Kirchgemeindehaus Glarus ein zahlreiches und interessiertes Publikum ein, um dem Vortrag des St. Galler Germanistik-Professors Mario Andreotti mit dem Titel: «Moderne Dichtung und christlicher Glaube: Einwände und Vorbehalte» zu lauschen. Eingeladen hatten die Evangelisch-Reformierte Kirchgemeinde Glarus-Riedern, die Katholische Pfarrei St. Fridolin und der Glarner Verein kulturzyt; weiterhin war die Stadtglarner Buchhandlung Baeschlin mit einem Büchertisch präsent.

Wer nun eine recht fromme oder betuliche Veranstaltung erwartet hatte, oder gar einen verzweifelten Versuch, das Christentum gegen «Angriffe» moderner Literaten zu verteidigen, stellte rasch fest: Dem ist nicht so. Hier wurde eine durch und durch rationale, kritische und logische Analyse vollzogen, welche geschichtliche und gesellschaftliche Hintergründe mitbetrachtete. Hier ging es auch um literarische Qualität und um ein Denken über die Grenzen des eigenen Gartens hinaus. Denn genau da hapert es vielerorts, wie der gebürtige Schwandner ausführte: Zäune und Gräben werden einerseits da errichtet, wo sich eine romantisierend-heilsgewisse Dichtung den realen Herausforderungen des menschlichen Seins verschliesst und sich in eine kuschelige Innerlichkeit flüchtet (als Beispiele zitiert Andreotti ein heimeliges Weihnachtsgedicht von 2011 und das Gedicht «Die heile Welt» Walter Bergengrüns von 1944, der auch angesichts der Weltkriegskatstrophe und des Völkermords an den Juden noch von Heil und Bewahrung spricht).

Andererseits sei bei modernen Autoren oder Literaturkritikern oft eine überhebliche und von vornherein abwertende Haltung festzustellen, welche der Christlichen Literatur, der Bibel und auch moderner Theologie entgegenbracht werde, ohne sich mit ihr auseinanderzusetzen oder den eigenen Standpunkt auch nur zu hinterfragen. Miteinander reden, statt übereinander – das täte dringend not und wäre fruchtbar für beide Seiten, so Andreotti.

Annäherung sieht er durchaus als möglich und stellt auch Beispiele eines aufrichtigen Ringens um eine «christliche Antwort» auf die existentiellen Fragen des sich ausgesetzt fühlenden Menschen der Gegenwart vor: so beim  Dichterpfarrer Kurt Marti (Beispiel: Gedicht ohne Titel, 1969, mit dem vielfach variierten Anfangssatz «ihr fragt – wie ist – die Auferstehung der Toten…?» und dem wiederholten Antwortsatz: «ich weiss es nicht»). 

Was aber sagt Andreotti nun zur vielfach geäusserten These, die «Christliche Literatur» sei tot oder verschwinde in der Bedeutungslosigkeit? Auf den ersten Blick mag das vielleicht so scheinen. Denn betrachte man nur die «Heile-Welt-Fraktion» dieser Literatursparte, so sei nicht verwunderlich, dass sich die heutige Leserin nicht mehr darin wiederfinde. Wenn man zudem Kriterien für literarische Qualität anlege – welche Professor Mario Andreotti im Schlusskapitel seines Longsellers «Die Struktur der modernen Literatur» unter 12 Punkten gut verständlich subsummiert – wird klar, dass solche Dichtung nach diesem Massstab enttäuschen muss: So bedient sie sich doch zu oft an Klischees, nichtssagenden und abgedroschenen Formen und Inhalten, lässt echte Kreativität, Innovation und Experimentierfreude sowie kritisches Hinterfragen vermissen. Ebenso wie es von der modernen Malerei hiess, sie sei tot (c’est fini, la peinture) lässt sich aber auch zur Christlichen Literatur sagen: Totgesagte leben länger! So gäbe es in der klassischen Moderne Werke, welche den heutigen Buchpreis-Heroen punkto Modernität und Innovation noch immer den Rang ablaufen, konstatiert Andreotti mit Blick etwa auf Franz Kafka. Dessen schonungslose Behandlung einer im Kern christlichen Thematik um «Schuld» und «Geworfensein in einer abweisenden Welt» bleibe eine bis heute wegweisende literarische Leistung.  

Insgesamt macht Andreotti in der modernen Dichtung drei verschiedene Bezüge zum christlichen Umfeld aus: Zum einen werden das Christliche und christliche Traditionen als atmosphärische Kulisse verwendet und erscheinen somit oft nur noch als «Lokalkolorit». Zum zweiten sind Anlehnungen an die Bibel und Übernahme von Bibelparaphrasen in die literarischen Texte vorzufinden. Drittens wird das Christliche bei zahlreichen Autoren der Gegenwart negativ herausgestellt – mit deutlicher Religions- und Gesellschaftskritik an die Adresse der Christen bzw. an die Kirchen. Einige Autoren greifen hierbei jedoch nicht den Glauben oder das Christentum selbst an, sondern die Verfehlungen, welche mit der Nähe  christlicher Institutionen und ihrer Vertreter zur Macht einhergehen. Geradezu exemplarisch zeigt Heinrich Bölls Roman «Ansichten eines Clown» wie die unheilige Allianz von Religion und gesellschaftspolitischen Normen Verlogenheit und sozialer Repression Vorschub leistet.

Nebst Böll findet sich auf dem Büchertisch hinten im Saal auch zeitlos Aktuelles von Max Frisch. Ich greife hier sein Theaterstück «Andorra» heraus, da es in Kürze auf der Bühne der Glarner Kanti-Aula gespielt wird: Es ist Teil des aktuellen Saisonprogramms der Kulturgesellschaft Glarus und kommt mit dem Theater Kanton Zürich nach Glarus, und zwar am 29. April 2023. Bemerkenswert ist, 1990 hat Glarus schon mal eine «Andorra»-Aufführung erlebt (wie die Akten der Kulturgesellschaft zeigen); das damals bereits 29-jährige Stück, das wohl meistgespielte des Autors, wurde da als keinesfalls abgestanden erlebt. Eigentlich ist es heute gruseligerweise sogar nochmals aktueller: Es genügt ein Hauch von nichts, eine blosse Projektion eigener Vorurteile (heutzutage zusätzlich durch eine offenbar höchst lukrative Fake-News-Industrie befördert), um jemandem den «Judenstempel» aufzudrücken und ihm den Tod auszuliefern – wobei «Jude» auch durch ein anderes Feindbild ersetzt werden kann. Teils geschieht das noch mit dem Segen oder zumindest dem Wegschauen der christlichen Obrigkeit. In Frischs «Andorra» treten alle Protagonisten zwischen den Bildern in «Vordergrund»-Szenen einzeln auf, um jegliche Schuld von sich zu weisen. Ein fatales Netz, gesponnen aus einzelnen giftigen Fäden, zieht sich unweigerlich zu, während jeder sagt: «Was hat unsereiner denn schon getan? Überhaupt nichts!»

Solche Literatur kann im tiefsten Sinne christlich sein, weil sie eben gerade die Bedürftigkeit des Menschen nach echter Erlösung zeigt – Erlösung nicht vom Bösen draussen in der schlechten Welt, sondern von den eigenen Beschränkungen, Verblendungen, ja eben wenn man so sagen will, Sünden. Demut angesichts des eigenen Unvermögens kann den Weg frei machen für neue Wege, für neue Dialoge, für einen grosszügigen Blick auch auf Andersdenkende oder Aussenseiter. Zäune und Gräben – es ist Zeit, sie zu begraben.   

Swantje Kammerecker       

Autor

Kulturblogger Glarus

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Kategorie

  • Glarus
  • Ostschweiz

Publiziert am

02.03.2023

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