Michael Eidenbenz und Sibylle Emmenegger
Michael Eidenbenz und Sibylle Emmenegger
Prof. Christine Lötscher
Prof. Christine Lötscher
Andreas Müller-Crepon und Arta Arnicane
Andreas Müller-Crepon und Arta Arnicane

Glarus, Zürich, Ostschweiz

Was uns Literatur und Musik über Klimakrise und Diktaturen sagen

An der Musikwoche Braunwald spielt immer auch Literatur eine wichtige Rolle. Im Kulturcafé Bsinti fanden heuer auch drei gut besuchte Matinéen statt. Die Lesungen und Vorträge zum Thema «Metamorphose» brachten erschütternd Aktuelles zu Tage.

Ovids Metamorphosen, zweitausend Jahre alt und Titelgeber der Musikwoche Braunwald 2023, gelten als das wohl bedeutendste literarische Werk unseres Kulturkreises. Schliesslich geht um nichts geringeres als die Entstehung der Welt, ihrer Wesen - und deren Verwandlungen. «Lesen Sie Ovid, er ist spannend wie ein Krimi und von geradezu prophetischer Klarsicht», sagt Michael Eidenbenz, Intendant der Musikwoche Braunwald, während seines Vortrags am 7.September im Bsinti. Titel: «Phaeton entflammt die Welt – Ovids Mythen im Licht der Aktualität umrahmt durch Benjamin Brittens Musik». Britten hat Ovids Erzählungen als Miniaturen für Oboe solo vertont; in Braunwald spielt Sibylle Emmenegger daraus. Musik und Text befruchten und ergänzten einander. Michael Eidenbenz, im Glarnerland aufgewachsen, ist nebst seiner Tätigkeit als Direktor des Departements für Musik der Zürcher Hochschule der Künste Journalist, Publizist und ein eloquenter Referent. Während Musikwoche Braunwald pflegt er jeweils kurze Einführungen zum Wochenthema zu halten, die sehr beliebt sind. Auch heute lauscht das Publikum gebannt.

Eidenbenz greift mit den Mythen «Narziss», «Pan» und «Phaeton» spannende Beispiele auf, die sowohl in der Psychologie wie auch in der Musik Niederschlag fanden und deren Symbolgehalt gerade in der Fiktion auf eine tiefere Wahrheit und Erkenntnis verweist. Metamorphosen - vom Menschen zum Tier oder zur Pflanze oder der Welt als solcher – zeichnen dabei eindringliche Bilder. So etwa die verheerende Fahrt des übermütigen Göttersohnes Phaeton, welcher den «Sonnenwagen» des Vaters ins Verderben lenkt: Dem kraftmeiernden Jüngling entgleitet das Geschirr mit den Rossen des Sonnenwagens, worauf die Erde Feuer fängt, Ländereien verbrennen, Flüsse vergehen und Tiere sterben. Mondgöttin Luna ist verwundert über die viel zu tiefe Bahn und holprige Raserei des Sonnengespanns, und Jupiter setzt dem schliesslich mit der Vernichtung von Wagen und Lenker ein jähes Ende. Hybris führt ins Verderben – wie viele Weltreiche von Babylon bis zu Hitlerdeutschland mussten dies erleben? Sind wir klüger geworden? Die Moral aus der Geschichte?

Die Antwort auf die Herausforderung des «entgleisten Sonnenwagens» alias Klimakrise kann laut Eidenbenz nur eine klarsichtige, vernunftbasierte Gegensteuer sein – kein reaktionäres, die Wissenschaft verleugnendes Lamento, das mit Verschwörungsgeraune keinerlei kritische Selbstflexion zulässt. Der gierige Besitzanspruch (meist männlicher Protagonisten) in den Mythen zeigt sich  – nebst der achtlosen Zerstörung der Welt – auch immer wieder in deren Übergriffigkeit gegenüber den weiblichen Wesen, hier Nymphen: Pan jagt die schöne Syrinx, die sich nur erwehren kann, indem sie sich in ein Schilfrohr verwandelt (doch auch das nimmt er sich, um eine Flöte daraus zu bauen), Apollo jagt Dafne, welche sich in ihrer Not in einen Lorbeer verwandelt, und die ihrer Stimme beraubte Echo stirbt vor Kummer. Auch das ist leider aktuell: Bis heute werden Frauen in vielen Ländern ihrer Stimme beraubt, sexuell ausgebeutet oder gezwungen ihrer Weiblichkeit zu entfliehen.

«Vom Traum, ein Baum zu sein» - also sich in ein Tier oder eine Pflanze zu verwandeln, darüber spricht auch Literaturprofessorin Christine Lötscher an der Dienstags-Matinee im Bsinti. Sie untersucht wie, ausgehend von Ovid, diese Metamorphosen ihren Niederschlag in der populären Gegenwartsliteratur finden. Und da ist einiges los: Einen ganzen Stapel Bücher, auch Fundstellen im Computer, hat sie mitgebracht. Anders als bei Ovid gibt es in der neueren Literatur auch die Teil-Verwandlung von Menschen zum Tier, Zwischenwesen wie etwa im «Herr der Ringe». Gerade in der jungen Literatur zeigen sich Verschmelzungsfantasien – aus dem Mitgefühl mit der bedrohten Schöpfung, aus Klima-Angst und Ökodysphorie. Der Roman des 16-jährigen irischen Autors Dara McAnulty «Tagebuch eines jungen Naturforschers» sowie der Roman von Richard Powers «Erstaunen» zeigen die Erschütterung junger Seelen, die sich in der Menschenwelt verloren fühlen. Dann ist der Traum ein Baum zu sein keine romantische Idee, sondern eine Notwehr, Ausdruck äusserster Verzweiflung – wie schon die Verwandlung der Ovid’schen Nymphen. Das eigene Erinnern und Verarbeiten der äusseren und inneren Welt kann ebenfalls als Metamorphose verstanden und gelesen werden – so bei Esther Kinskys Gedichtband «Schiefern» - wo Bewusstsein und Sprache sich der Struktur des brüchigen Gesteins anverwandeln.

Auch politisch kann das Symbol der Metamorphose sehr viel ausdrücken; in der ebenfalls fantastischen Matinee vom Mittwoch ist davon zu hören. Sprecher Andreas Müller-Crepon liest aus dem hundertjährigen Roman des russischen Arztes Michail Bulgakov «Hundeherz», eine bittere Politsatire. Dazu erklingen durch Pianistin Arta Arnicane Stücke von Skriabin, Shchedrin, Shostakovic und Prokofieff. Sie hauchen dem Wort ungeheure Intensität ein. Bulgakovs «aufrührerisches» Werk wurde von den Sowjets bei einer Hausdurchsuchung beschlagnahmt, blieb Jahrelang verschwunden und verboten, konnte erst im politischen Tauwetter von 1987 in Russland erscheinen. Heute, da systemkritische Autoren und Journalisten wieder verfolgt werden, hätte es ein vergleichbares Werk sicher nicht leichter! Der Strassenköter Lumpi wird von einem Professor aufgenommen, der mittels Drüsen-Transplantation einen Menschen aus ihm machen will – was auch gelingt. Nur leider gerät das ganze Experiment aus dem Ruder, die neue Kreatur wird für ihren Schöpfer eine Bedrohung: indem sie das System aufmischt, sich als lüsterner Strolch und katzenjagender Angestellter der Moskauer Stadtverwaltung gebärdet. Das Werk von beissendem Humor und tiefem Ernst vereint eine scharfe Gesellschaftsanalyse mit einer Meisterleistung an schöpferischer Fantasie. Am Schluss wird der Hund wieder Hund. Aber wir, Zuhörende, sind nach solchen Matineen nicht mehr die gleichen.

«Ob es ein kleines Musikfestival wie dieses braucht, ist die eine Frage», meint Michael Eidenbenz zur noch offenen Zukunft der Musikwoche Braunwald: «aber eine zweite dürfte klar mit ja beantwortet werden: ob es Formate für Musik, Kunst und Literatur braucht. Ja, , um Realitätsräume zu Möglichkeitsräumen zu erweitern, die wiederum auf die Realität zurückwirken, um in einer Gesellschaft Sinn über die blosse Existenz hinaus zu vermitteln. Kunst hält keine Klimakatastrophe auf. Aber ihre kleine Stimme ist wichtig, sie hat – jenseits von Kitsch oder Selbstüberschätzung – einen Beitrag zu leisten.»

Von Swantje Kammerecker

Autor

Kulturblogger Glarus

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  • Zürich

Publiziert am

07.09.2023

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