Claudio Landolt signiert. Fotos: Swantje Kammerecker
Claudio Landolt signiert. Fotos: Swantje Kammerecker
Im Atelier 1
Im Atelier 1
Im Atelier 2
Im Atelier 2
Im Atelier 3
Im Atelier 3
Vorm Kunsthaus 1
Vorm Kunsthaus 1
Vorm Kunsthaus 2
Vorm Kunsthaus 2

Glarus, Ostschweiz

Akustisches Tiefsee- (oder Tiefberg-)Tauchen am Vorderglärnisch

Claudio Landolt, Glarner SRF-Musikredaktor und Kulturpublizist, hat den Vorderglärnisch in Klängen porträtiert. Soeben erschien unter dem Titel „Nicht die Fülle nicht Idylle nicht der Berg“ sein Buch plus 30-minütige Klangcollage. Eine Erkundungstour.

Wie das so ist im Glarnerland: Man läuft sich früher oder später über den Weg. Claudio Landolt habe ich vor Jahren als jungen Video-Journalisten des damaligen TSO (Tele Südostschweiz) kennengelernt. Inzwischen ist er Musikredaktor bei SRF, hat Kulturpublizistik und Elektroakustische Komposition an der ZHdK studiert. Mit seinem Duopartner Dafi Kühne (Fredi Ignazio & Captain Moustache) konzertiert er und produziert zudem seit 2007 eigene Musik („Minimal-Western Country-Trash“), die er auf dem eigenen Vinyl-Label veröffentlicht. Freier Autor ist er aber auch noch.

Und in dieser Funktion tritt er gerade mit seinem Lyrikband „Nicht die Fülle nicht Idylle nicht der Berg“ in Erscheinung. Dass dieses Buch mit dem schlichten blauen Cover und der ebenfalls puristischen Typografie aber ein tönendes Buch ist, liegt ganz in seiner (Entstehungs-)Natur: Zuerst war das Projekt, für Landolts Masterarbeit konzipiert und erstellt, eine Klangcollage aus über 100 Stunden Tonaufnahmen am Vorderglärnisch. An dessen Fuss lebt seit drei Jahren der gebürtige Näfelser, der auch etliche Jahre im Ausland verbrachte; er hat zu ihm eine Beziehung aufgebaut: „Ich liebe dich, du alter Chlotz. Wie du so dasitzt und so tust, als wärst du gar nicht da“, dieses Bekenntnis auf der Rückseite des Buches ist wohl als Ausgangspunkt und Resümee der „sinnlich-poetischen Lese- und Hörreise“ zu verstehen, welche dieses Bergporträt entstehen lässt.

In „Der gesunde Menschenversand“ fand er einen Verlag, dessen Schwerpunkt Spoken Word/Akustische Literatur wohl perfekt seinem Werk entspricht. Es ist ein ungewöhnliches Buch, dessen genreübergreifender, spielerisch-experimenteller Ansatz neugierig macht, in dem aber auch die exzessive Suche nach Erkenntnis, das Forschen nach einer (teils) verborgenen Klangwelt ebenfalls fasziniert. Weil das Buch wie der Berg ihr Geheimnis aber nicht immer auf den ersten Blick offenbaren, lohnt es sich tiefer einzutauchen – wie man eine Landschaft auch besser kennenlernt, indem man sich immer mehr mit ihr vertraut macht. Obwohl, oder gerade weil die Gedichte im Buch meist kurz sind, sind sie dennoch nicht gemacht für den schnellen Konsum: Man hat mehr davon, sie sich auf der Zunge – oder besser gesagt im Ohr oder vor dem inneren Auge – zergehen zu lassen.

Mit dem Autor sprechen zu können, der Einblicke ins „Making-of“ des Projekts gibt, war dann für mich nochmals ein Aha-Erlebnis. Ein Besuch in seinem Atelier an der Schiltstrasse: Hier hängen an der Wand die „Partitur“ zu seiner Klangcollage und eine Art topografische Karte der akustischen Motive des Bergs, geschichtet von innen nach aussen und von unten nach oben. Das Rohmaterial der Komposition besteht zum grössten Teil aus den Aufzeichnungen von Schwingungen im Gestein, im Wasser und in der Luft. Ein Mikrofon, das über die Luft funktioniert, kennt jeder; aber ein Hydrophon und vor allem ein Seismograf sind doch eher ungewöhnliche Instrumente: Letzteres verwenden Geophysiker für die Diagnostik von Gesteinsbewegungen, um etwa sich anbahnende Erdbeben zu erkennen. Mit dem hochempfindlichen Apparat, den Landolt für einen Tag ausleihen konnte, nahm er am Gipfel und in mittlerer Höhe die Eigenfrequenz des Berges auf, die so tief ist, dass sie erst mit 30- bis 40-facher Geschwindigkeit abgespielt für unser Ohr hörbar wird. Welch unglaubliche Welt, die sich da offenbart – wie akustisches Tiefseetauchen: Was vorher unter der Oberfläche verborgen war, wird dem mit erweiterter Wahrnehmung ausgestatteten Menschen plötzlich zugänglich!

Aber das ist nur eine Seite dieses Bergporträts. Die Gedichte und Prosaminiaturen im Buch wirken wie Skulpturen, welche Claudio Landolt aus dem Steinbruch der Sprache herausgeschält hat. So fand er etwa in einem älteren Buch zur Geografie des Glärnisch charakter- und klangvolle Fachbegriffe und Beschreibungen, welche er zu Gedichten formte. Oder was er selber wahrgenommen hat am Berg, Gesprächsfetzen, Natur- und Tiergeräusche, kondensiert er in akustisch und visuell rhythmisierter Sprache. Das macht die Texte körperhaft, gibt ihnen eine Gestalt aus Form und Klang. Ein Beispiel? Bei „Gleiterbach“ kann man auf drei Doppelseiten in Mit- und Selbstlauten akustisch dem Weg des Wassers folgen; das Schriftbild gleicht ebenfalls einer mal laminaren, mal wirbligen Strömung.

„Das möchte ich einmal hören!“ wünschte jemand an der Telefon-Lesung, die Claudio Landolt am 16. April wegen der noch coronabedingt geltenden Einschränkungen in dieser Form abhält. Dem Anrufer wurde eine einminütige Kostprobe aus dem Gleiterbach-Gedicht geboten. Die jüngsten Anrufenden wurden mit Gedichten bedacht, die „Tiere“ oder „Farben“ enthielten. Auch zwei Gedichte erklangen, die es nicht ins Buch geschafft hatten. Ein Anruf kam aus England, einige auch von ausserhalb des Kantons. Über die Website www.vorderglaernisch.com wurde die Telefonlesung gestreamt. Die rege Beteiligung der Anrufer freute den Autor, „das gibt doch schon mal etwas mehr Interaktion.“

„Ich habe es viermal am Telefon versucht und bin nicht durchgekommen“, sagt eine Besucherin, die sich am Wochenende vor dem Kunsthaus Glarus einfindet. Hier wird jeweils an zwei Tagen für 6 Stunden „Nicht die Fülle nicht Idylle nicht der Berg“ vorgestellt. Claudio Landolt hat seinen roten Liegestuhl mit Blick auf dem „Chlotz“ aufgestellt, wo man sich mit Kopfhörer niederlassen kann, um die Klangcollage zu hören. Das Dach sorgt sogar für relative Regensicherheit, das Wetter ist wie so oft im Glarnerland etwas unsicher, hat aber bis zum Schluss gehalten. Am Sonntag, wo es kühler ist, seien sogar mehr Leute vorbeigekommen, erzählt Claudio Landolt. „Ein Frau sagte, sie habe alles bis zum Schluss hören wollen, eine andere wählte bewusst nur Ausschnitte.“ Wer dieses Event verpasst hat, kann sich noch auf weitere Gelegenheiten freuen: Am 8.5. findet eine Buchvernissage in der Buchhandlung Wortreich in Glarus (die auch fast zu Füssen des Vorderglärnisch liegt), statt; anschliessend gibt’s ein Tonbandkonzert im „Tunnel“ auf dem Holenstein-Areal. An die Solothurner Literaturtage wurde Claudio Landolt auch schon eingeladen. Auf www.vorderglaernisch.com kann man sich auch vorab zwei Videogedichte anhören  – und natürlich gibt’s das Buch zu kaufen. 
Text und Bilder: Swantje Kammerecker

Autor

Kulturblogger Glarus

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Kategorie

  • Glarus
  • Ostschweiz

Publiziert am

18.04.2021

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