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Glarus

Um den Höhepunkt musste man sich schon selber kümmern

Im Anna-Göldi-Museum fand kürzlich ein Vortrag mit dem Titel „Auf den Spuren weiblicher Sexualität“ statt. Organisiert wurde der Anlass von der Frauenzentrale des Kantons Glarus, Referentin war die Sexualpädagogin, Sexualberaterin mit eigener Praxis und Hebamme Prisca Walliser. Ein Abend, der gemischte Gefühle hinterlässt.

von Eva Gallati, Kulturbloggerin

Vorher hatten in unserem Frauentanzgrüppli alle gesagt „da gehen wir hin!“, wobei am Schluss waren wir dann waren doch nur zu dritt, aber immerhin. Wir machten 10% der Besucherinnen aus! Nach der Ankunft im grandiosen Dachstock des Hänggiturms in Ennenda verteilen wir uns im Raum, setzen uns zu unseren Kolleginnen und Freundinnen. Im Glarnerland kennt bekanntlich jede:r  jede:n. Dieser Abend ist nur für Frauen, weshalb die Genderei eigentlich weggelassen werden könnte. Wie sich später herausstellen wird, ist diese der Referentin sowieso ein Dorn im Auge (in der abschliessenden Fragerunde ist dies das Thema, wo sie sich leidenschaftlich, eifrig, voller Feuer in eine Art bescheidene verbale Rage hineingibt). Doch nun von Anfang an.

 

Zurücklehnen und geniessen

Auf dem Handzettel stehen verlockende Worte: der Vortrag solle „anregen, Antworten auf zentrale Fragen der weiblichen Sexualität zu finden, Mythen und Vorurteile kritisch zu betrachten. Oder kurz gesagt: „Der eigenen Sinnlichkeit auf die Spur kommen."
 
Wir finden an Frau Walliser alles sympathisch: den Toggenburger Dialekt, ihr Äusseres, ihre Stimme. Sie wirkt ruhig, lebenserfahren und glücklich in ihrer Haut. Es gefällt uns, dass sie hier ist und uns über Sexualität – WEIBLICHE SEXUALITÄT! berichten wird. Denn diese interessiert uns brennend. Im Publikum sitzen Frauen im Alter zwischen 20 und 75 Jahren, die meisten aber zwischen 50 und 60, wir blicken freundlich nach vorne zu Frau Walliser, die sich mit ihrem Werdegang vorstellt. Sie sieht sich als Hebamme der weiblichen Sexualität, möchte also unterstützend dabei sein, wenn die weibliche Sexualität das Licht der Welt erblickt,  mit möglichst wenig Schmerzen bei der Gebärenden und einem „Kind“, das gesund zur Welt kommt, innig an der Mutterbrust herangedeiht und dann eines fernen Tages in diese Welt hinausgeht, um ein eigenes Leben zu führen.
 
Die wilden, unwissenden 70er

Unsere Referentin ist wie ich ein Kind der 60er-Jahre. Sie hat ihr erstes Wissen über die verbotenen Dinge auch aus der Zeitschrift „Eltern“ bezogen. Damals wurde man nicht von seinen Eltern aufgeklärt. Auch die Schule hielt sich fein raus. Ein bisschen was über Fortpflanzung bekam man aus der Tierwelt mit. - Aber egal, wir sind nun in unseren eigenen 60ern und haben viel erlebt, viel gelesen, viel gelitten. Wie war und ist es wohl für die Jüngeren unter uns?

Im ersten Teil des Vortrags zeigt Frau Walliser anhand einer Powerpoint-Liste den Inhalt ihrer Präsentation auf. „Verständnis von Sexualität, Psychosexuelle Entwicklung, Weibliche Sexualität, Anatomie, Sexualität und Elternschaft, Sexualität und Wechseljahre, Erfüllende Sexualität“ – ein weiter Bogen für einen einzigen Abend! Die eher sachlichen Aufzählungen oder Bestandesaufnahmen werden gespickt oder gewürzt von Berichten aus ihrer alltäglichen Praxis, sei es beim Sexualunterricht im Kindergarten mit herzigen Anekdoten oder bei der Sexualberatung von Paaren, bei denen „es nicht mehr so gut läuft“ mit Ratschlägen, die sie ihnen erteilte.
 
Schrittweise zum Wissen

Die einzelnen Kapitel enthalten wiederum Listen, z.B. werden beim ersten Thema, dem "Verständnis von Sexualität“ die folgenden Unterpunkte aufgezählt: Biographischer Aspekt, Lust-Aspekt, Identitäts-Aspekt, Beziehungs-Aspekt, Fruchtbarkeits-Aspekt.

Nach dem zweiten Thema „Psychosexuelle Entwicklung“, wo es um Reinlichkeitserziehung, Schamentwicklung, Beziehung der Eltern zu einander, Aufklärung und die verschiedenen Sprachebenen (medizinisch, vulgär und alltagssprachlich) geht, um die Pubertät, erste emotionale und körperliche Erfahrungen, dürfen wir uns bei einem „Murmelgespräch“ austauschen zu der Frage: „wie wurden Sie aufgeklärt?“
 
Sex-Gemurmel

Das Bedürfnis nach Austausch scheint ziemlich gross zu sein. Nach Gemurmel klingt es jedenfalls nicht lange, es steigert sich zu lautem Stimmengewirr, wir rücken zusammen, es wird spürbar heisser im Raum. Wie lange dürfen wir? Nach wenigen Minuten unterbricht die Referentin die „Übung“, um mit ihren Aufzählungen fortzufahren.



„Heute muss alles muss optimal sein, und wir zeigen es dann gerne vor. Früher wurde mehr versteckt.“
 
„Früher herrschte die Moral, vieles wurde tabuisiert. Heute maximieren wir unsere Leistung.“
 
Wo ist dieses Ding genau?

Wir kommen nun in den Genuss einer Einführung in die weibliche Anatomie. Wir sehen alte Illustrationen und neuere, in den älteren wurde früher absichtlich etwas weggelassen. Was keinem (männlich-technischen) Nutzen diente, war offiziell, sprich in den medizinischen Lehrbüchern, inexistent. Die Klitoris wurde von Freud gewissermassen als kindisches Spielzeug bezeichnet. Nur 15% der Frauen erleben einen vaginalen Orgasmus, finden Erlösung und Entspannung durch den Mann. Diesen musste „man“ aber vorweisen können, um als erwachsene Frau zu gelten. Ja, von dieser Tatsache erfuhr ich leider erst, als ich bereits einen diesbezüglichen Minderwertigkeitskomplex installiert hatte. Immerhin ist dies doch auch schon wieder etwa 35 Jahre her. Inzwischen habe ich auch die G-Punkt-Diskussion unbeschadet überstanden und fühle mich wieder vollwertig, frisch und wohl.
 
 

Die Elternschaft, die Wechseljahre… schwierig, schwierig… Seitensprünge, hm, naja…. Pornographie, Masturbation vor dem Kompi..., das ist pfui, oder?
 
Aber hallo, Intimität ist ja nicht nur Sex

Körperkontakt, Akzeptanz unserer Körperlichkeit, unserer ganzen Person, das ist es eigentlich, was wir suchen, was wir brauchen, was uns gut tut und gesund erhält, meint Frau Walliser. Womit ich natürlich grundsätzlich einverstanden bin.

Frau Walliser fordert uns auf, unsere Neugierde, den „Gwunda“, zu bewahren, zum Erblühen sei es nie zu spät.
 
Noch Fragen?

Auf die Frage, wie viel Schaden eine streng religiös geprägte Kinder- und Jugendzeit anrichten könne, antwortet sie ausführlich: „Das ist sehr individuell. Aber auch wenn ein Schaden angerichtet wurde, gibt es Wege, ihn zu beheben." Sie selber sei schon als Kind sehr mutig gewesen und habe dem Pfarrer allerlei Fragen gestellt über alles mögliche, was sie damals interessiert habe.

Auf die Frage nach den Gründen, aus denen ihre Hilfe als Sexualberaterin gesucht würde, antwortet sie: „Häufig geht es um die Unterschiedlichkeit eines Paares in der Häufigkeit sexuellen Begehrens, um Erektionsprobleme, Lustlosigkeit, Krankheiten welche den Geschlechtstrieb einschränkten, Seitensprünge etc.“

Auf die Frage, was sie „von der ganzen LGBTQIA+ Sache halte“, antwortet Frau Walliser mit Entschiedenheit und Verve. Fazit: sie wünscht sich an anstelle dieser eher unnötigen Diskussion eine stärkere Lobby für Menschen mit Behinderungen. 

Das eigentlich eingeplant gewesene zweite Murmelgespräch findet nicht statt, man hat bereits die Zeit überzogen. Dafür war beim anschliessenden Apéro noch Gelegenheit, sich auszutauschen.
 
Bettmusik

Als wir uns zwei Wochen später erneut in unserem Tanzgrüppli treffen (wo übrigens auch Männer willkommen sind!), hat unsere Musikmeisterin eine von jenem Abend inspirierte Playliste kreiert: wir kommen in den exquisiten Genuss einer ganzen Stunde Musik von Prince, „dem grössten Tantriker in der Musikgeschichte“. Sehr sexy, diese Musik! Inspirierend!
 
 
 
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Autor

Kulturblogger Glarus

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Kategorie

  • Glarus

Publiziert am

11.06.2023

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