Foto von Tim Mossholder auf unsplash
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Roberta und Chucho / Foto Gabriele Pelliciotta
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Foto von Seth Preillumination auf unsplash
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Nina und Chuchito / Foto Gabriele Pelliciotta
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Nouvelles, Culture

Tango der Liebe

Die Buchhandlung Wortreich verwandelte sich kürzlich eines Donnerstagabends in eine Tango-Bar. Die Zuschauer:innen tauchten in eine andere Welt ein und verfolgten gebannt das Wechselspiel aus argentinischem Tango und einer Liebesgeschichte wie sie im Buche steht.

von Eva Gallati, Kulturbloggerin

Die Schauspielerin Annette Wunsch und der Musiker und Komponist Goran Kovačević interpretierten zusammen die Novelle der deutsch-argentinischen Schriftstellerin Esther Vilar. Der Titel des 1985 erschienenen Buches, das leider vergriffen ist, lautet „Die Mathematik der Nina Gluckstein“. Darin  erinnert sich eine betagte Dame an ihre unglückliche Liebesgeschichte – heute würde man es eine On-Off-Beziehung nennen – und vergleicht sie mit der vermeintlich glücklicheren Liebe der Nina Gluckstein. Was hat Nina getan, um so sehr geliebt zu werden?

 

Auf die Bühne tritt Goran Kovačević in eleganter Hose und glänzendem Hemd, sorgfältig frisiert und mit nachdenklichem Blick. Ein Schluck aus dem Whiskyglas, und er ergreift sein Akkordeon und beginnt zu spielen. „Ich kriege grad Hühnerhaut“ sagt meine Sitznachbarin, danach schweigen wir und baden in der Musik, lassen uns treiben. Schon hier beginnt die Geschichte, noch ohne Worte.

 

Auf der Bühne ist alles schwarz: der Schreibtisch, die Wandtafel, Stühle und Sessel, auch die Kleider von Annette und Goran sind schwarz, mit einer Ausnahme: das rote Halstuch das Annette trägt, wenn sie in die Rolle der Nina Gluckstein schlüpft. Dann trägt sie auch eine grosse Sonnenbrille, fast wie Jackie Onassis sieht sie dann aus: elegant, unnahbar, allen überlegen. So setzt sie sich neben oder stellt sich hinter Chucho Santelmo und liebkost ihn massvoll, um kurz darauf eilig davon zu stöckeln.

 

Die Ich-Erzählerin Roberta Gomez Dawson hingegen ist eine leicht verstrubbelte Intellektuelle, die Ordnung in ihre Gedanken zu bringen versucht, indem sie diese in ein (natürlich schwarzes) Heft schreibt. Sie führt Selbstgespräche, geht zur Wandtafel und notiert dort mit Kreide mathematische Gleichungen. Roberta ist eine berühmte Lyrikerin, sie schrieb nur und ausschliesslich für ihren unerreichbaren Geliebten, der entweder im Gefängnis oder mit der Revolution beschäftigt war. Doch nun ist sie alt, ihr namenloser Gefährte ist gestorben und sie hat niemanden mehr. Am Unabänderlichen der Vergangenheit schier verzweifelnd zieht sie Bilanz. 

 

Chucho Santelmo hingegen gibt es nur einmal, er sagt nicht viel. Er ist einfach da mit seinem Instrument, entrückt im Spiel, entspannt im Zuhören und schlicht im Antworten. Er kennt kein verbales Pathos – aber in seiner Musik ist alles, eine ganze Welt, oder mehr als das. Wie gut, dass der Monolog der „overthinking Lady“ unterbrochen wird von Tangomusik, die so klingt wie im Programm angekündigt: „wie liesse sich etwas beschreiben, das sich jeder Regel der Harmonielehre, jeder kalkulierbaren Dramaturgie entzieht? Das es unseren Gefühlen verwehrt, sich einzunisten, unsere Gedanken immer wieder aufschreckt, unseren Fingern das gönnerhafte Mitklopfen des Taktes untersagt?“

 

Liebe kann man nicht erzwingen. Roberta bedauert noch immer, in ihrer Beziehung zu einem argentinischen Oppositionellen zu anhänglich gewesen zu sein, sie ist sich ganz sicher, dass dies der Grund war, weshalb dieser sich von ihr abwendete. Sie erforscht die scheinbar gelungene Liebe der Nina Gluckstein, und verachtet dabei "diese Alters- und Krankenversicherungsexperten" für die "Liebe soviel wie Beistand, Solidarität, Verstehen und Verzeihen ist, der Geliebte ein Partner, auf den man sich verlassen kann, ein Freund, zu dem man "trotz aller seiner Schwächen" steht". 

 

Indessen hat Nina erkannt, dass solches Verhalten die Liebe tötet. Nach den ersten wonnevollen Wochen, die sie mit ihrem neuen Liebhaber im Bett verbrachte, kriegt sie gerade noch die Kurve. Nina meint zu spüren, dass der Geliebte kühl wird und wieder in sein Alltagsleben und -fühlen zurückzukehren beginnt - und verreist ein paar Monate nach Europa, um sich rar zu machen. Es fällt ihr unfassbar schwer, ohne ihn zu sein, aber sie hat einen Entschluss gefasst: Sie wird in ihrer Beziehung diejenige sein, die weniger liebt. Immer wieder entzieht sie sich ihm, niemals gestattet sie sich, ihre abgöttische Liebe in Worte zu fassen. Sie möchte unerreichbar bleiben, ein Idol, eine unabhängige kühle Frau, deren Gunst er mit unglaublich kostbaren Geschenken erkauft, eine Geliebte, die ihm nie ganz ergeben ist. Chucho‘s leidenschaftliche Begierde soll niemals versiegen! Nach ihrer Rückkehr willigt sie scheinbar belustigt ein, ihn zu heiraten, gerade so erfreut, als würde sie grosszügig die ihr entstehenden kleinen Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen, welche die Ehe mit sich bringt. Chucho ist glücklich. Er setzt an zu einem wundervollen langen Lied, leise und zärtlich klingt es, wie ein mit unzähligen Kerzen geschmückter Liebesaltar in einer goldenen Kathedrale. 

 

Als verheirateter Mann schreibt der Tangosänger Chucho Santelmo immer neue, immer bessere Lieder, ja er erfindet den Tango neu. Die Massen jubeln ihm zu, seine Konzerte sind ausverkauft, er ist viel unterwegs, weltweit. Nina bleibt zu Hause, schützt Desinteresse vor, hat „Wichtigeres zu tun“. Aber alles was sie denkt und tut gilt ihrem Geliebten, ihr Leben ist inhaltslos ohne ihn. Sie ist 30 Jahre jung und gut betucht als sie sich treffen, hat keinen Beruf, keine Familie, keine Freunde. Ihre Rolle ist: Göttin zu sein für einen Mann, der ein Gott der Massen ist, ein Idol, ein Prominenter.

 

Verachtet sie ihn nie für seine Anhänglichkeit, seine Grosszügigkeit?

 

Sie ist die Herrscherin, indem sie sich beherrscht. Und damit auch ihn, der sie niemals durchschaut.

 

Doch es scheint zu funktionieren: nach 10 Jahren ist das Paar noch immer unsterblich verliebt. Und die Geschenke werden immer unverschämter: Flugzeuge! Ganze Inseln! Schlösser! Nina nimmt alles und will noch mehr. Chucho’s Fans beginnen Nina zu hassen. An seinem letzten Konzert eskaliert die Stimmung: „Ich widme dieses Lied meiner geliebten Frau, Nina Gluckstein“. „Sie ist eine Hure!“ skandieren die Massen, der Lauf der Tragödie ist nicht mehr aufzuhalten.

 

Esther Vilar bestätigte sich mit dieser Novelle ihre eigene These, wonach die Frauen die wahren Unterdrückerinnen seien und die Männer deren Opfer (siehe auch ihr 1971 erschienenes Buch „Der dressierte Mann“). Der Mann arbeite, die Frau geniesse das Nichtstun und verschleudere das vom Mann verdiente Geld, ohne emotional verfügbar zu sein und ohne sich für den Lebensinhalt des Mannes  zu interessieren. Als Autorin der "Mathematik der Nina Gluckstein" steht sie scheinbar über der Sache, sie identifiziert sich weder mit der Ich-Erzählerin in der Rolle der reuevollen Denkerin noch mit Nina Gluckstein, der berechnenden und dennoch leidenden menschlichen Projektionsfläche für die niemals endende Liebe des Mannes, dessen Leben sie damit zerstört.

 

 

Ein genussvoller Theaterabend, sowohl visuell als auch intellektuell und musikalisch, der sehr intensiv zum Nachdenken anregte. Liebe kennt kein Gleichgewicht. Dies haben wir alle schon erfahren müssen. 

 

Die Vorstellung endete zart und versöhnlich mit einem zweistimmig gesungenen Lied – und mit einer witzigen Zeitungsnotiz, die das Publikum mit einem Schmunzeln auf dem Gesicht in den Abend entliess.

Autor

Kulturblogger Glarus

Catégorie

  • Scène
  • Nouvelles / Rapports

Publié à

21.02.2024

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