Foto Bernard Liechti
Foto Bernard Liechti

Glaris

Klang und Glanz im Weihnachtsbaum

Im dritten persönliche Adventsbeitrag sinniert Kulturbloggerin Eva Gallati über Vogelschwärme und Menschenfamilien, erinnert sich an gemütliche Stunden und ein altes Haus, und dann stellt sie noch ihre Lieblingsbücher des Jahres vor. In letzter Minute ist eines dazu gekommen das im Glarnerland spielt, aber vor über hundert Jahren.

von Eva Gallati, Kulturbloggerin

Hier sitze ich, wie vor einem grossen Sack aus Jute. Ein Sack, dem Samichlaus gestohlen, rauh und trocken und leicht, aber bis oben gefüllt mit grossen und kleinen Sachen. Was ist da drin? Durch das Jahr habe ich Dinge in diesen Sack gelegt, habe sie mir selber zum Geschenk gemacht und eingepackt, ohne sie anzuschauen. 

Es ist Advent, schon der dritte. 

Als es später Herbst war, aber noch warm, spazierte ich durch das Dorf meiner Kindheit. An der Mauer zu Grosi‘s Haus stehe ich still und lausche dem Gezwitscher vieler kleiner Vogelkehlen. Es dringt aus der hohen weitverzweigten uralten Eibe mit den schönen roten Früchtchen. Ich zerdrücke eins davon und staune wieder darüber, wie es zerplatzt, wie durchsichtig und schleimig der Saft an meinen Fingern klebt, wie die Haut so wächsern hellrosa durchscheint und in meiner Hand schmilzt. Ich lächle in den Himmel hinauf, der hinter den Zweigen verborgen ist, ich höre die Staren ihr Jahr besingen, ihre paar Monate in unserem Tal. Damit vertreiben sie sich die Wartezeit bis zum Abflug „nach Afrika“. Jede Stimme ist eine Welt. Jeder Star hat Töne gesammelt und daraus sein eigenes Lied komponiert, er ist ein kreativer Imitator. Sichtbar ist kein einziges Tierlein, also konzentriere ich mich auf die einzelnen Stimmen. Amsel, Fink, Zaunkönig und Meise, Spatz und Rotkehlchen höre ich heraus, wie glänzende Kugeln aus Klang tun sie sich hervor, um gleich wieder im aufgeregten schrillen Geschwätz unterzugehen, wie hinter einer Kulisse aus glitzernder Lametta. Alle reden sie gleichzeitig, fast wie manche Menschen…

Die Mauer begrenzt den Garten gegen die Strasse, dahinter befindet sich die grosse Wiese mit den Apfelbäumen und das gegen Süden offene Gebäude, wo wir an warmen Sonntagnachmittagen den Tee nahmen. Am Türrahmen aus Sandstein Mutters eingekratzter Name, Helen, plötzlich erinnert sie sich daran an jenem besonderen Tag im Mai, als wir nach vielen Jahren das erste Mal wieder im Gartenzimmer bewirtet werden, sie im Rollstuhl statt im Rohrsessel. Ihr Lachen, als ich ihren Namen finde! Eine leichte feine Kugel, sehr zerbrechlich.

Mein Jahr war reich und schön und interessant, manchmal auch traurig, nervig und streng, aber niemals langweilig! 

Kulturelle Anlässe habe ich besucht und darüber geschrieben, alleine mit meinem Notizbuch sass ich in Sesseln, auf Kirchenbänken, Kinostühlen und schrieb von Hand meine Eindrücke auf, sammelte Flugblätter, Einladungen, Visitenkärtchen. Zuhause setzte ich mich an den PC und gestaltete Texte aus den oft wirren Notizen, während dem Schreiben habe ich manchmal etwas verstanden, was mir verborgen geblieben wäre ohne die tiefere Befassung damit.

Auch zu zweit reflektieren ist ganz wunderbar. Überraschend und schön und bereichernd sind Gespräche, bei denen ich erst weiss was ich denke, nachdem ich gehört habe was ich sage. Denn in jedem Menschen steckt noch viel mehr als die Geschichten, die er (oder sie) immer wieder mit den gleichen Worten erzählt, sodass nahe Stehende sich seufzend zurücklehnen und denken: "auch das geht vorbei".


Oder lesen, natürlich lesen. Voilà meine wichtigsten Bücher des Jahres 2023:

„Der Ursprung der Welt“ von Liv Strömquist

„Wir hätten uns alles gesagt“ von Judith Hermann

„Die Frau und der Affe“ von Peter Hoeg

„Die Erschöpfung der Frauen“ von Franziska Schutzbach

„Reine Farbe“ von Sheila Heti

„Die Wahrheiten meiner Mutter“ von Vigdis Hjorth

"Alma und Zina" von Doris Walser


Während dem ich mein Jahr rühme, dankbar bin und zufrieden über die frühe Dunkelheit am Abend, über die Ruhe im gemütlichen Daheim, kommt auch die andere Seite hervor.

Es ist Dezember, der kürzeste Tag und die längste Nacht stehen noch bevor, und mit Menschen zu sprechen ist in dieser Zeit manchmal schwierig, besonders wenn man sie schon sehr lange kennt. Die Stimmungen in geschlossenen Räumen können anspruchsvoll sein, dicke Luft, Wut, Ungeduld, Ansprüche, Neid, Eifersucht… Die Hektik in den Geschäften flirrt und steigert sich noch, wir brauchen jetzt so vieles, für uns selbst und für andere. Und immer ist das Thema Familie präsent als Aufhänger und Auslöser, als Versprechen, Enttäuschung oder Hoffnung. 

Ich fabuliere: Wir könnten im Familienzusammenschluss Welten bilden die andere Welten neben sich dulden, und jenen eine Projektionsfläche anbieten, die nicht dazugehören, aber nur als Orientierung, auch wenn die gekrümmte Fläche den Namen „heile Welt“ trüge. Diese Kugeln spiegelten die Welt auf dem Kopf stehend und verzerrt, aber so wie sie sein müsste: kleine und grosse Familien, die sich alljährlich in der Weihnachtszeit treffen, ohne Streit, vielleicht auch ohne viel Nähe, aber als Vorstellung eines Ideals, das sich viele wünschen. Das ist ein Grund zum traurig sein in der dunklen Jahreszeit. Auch unsere Augen sind Kugeln und sähen eigentlich die Welt „zunderobsi“, unser Gehirn dreht sie einfach um und zeigt uns, was wir als richtig und unumstösslich erachten, damit wir auf unseren Füssen stehen bleiben und den Boden spüren können. 

Es ist Advent, und die Welt hat fast keine gesunden Stellen mehr, aber noch immer grenzt meine Hoffnung an Zuversicht und meine Zuversicht an Gewissheit: dass am Heiligabend alles wieder gut sein wird. Was begegnet uns noch auf dem Weg dahin? Bis knapp vor die Türe, hinter der eine immer gleich geschmückte Tanne steht, ist Krieg. Wir essen die Beute in Angst auf, bevor wir hinein gehen, ins Licht, in die warme Stube. Dort wird Frieden sein, Lächeln und Liebe. Alle Jahre wieder.

Möge jeder Mensch eine eigene kleine Welt sein, ein Wunder unter lauter Wundern, den Baum des Lebens zu schmücken. Wir spiegelten dann jede:r das Leuchten der Kerzen und vervielfachten es gemeinsam und reichten es unter einander weiter und auch an diejenigen, die ausserhalb stehen, aus irgend einem Grund.

 

Autor

Kulturblogger Glarus

Contact

Eva Gallati
Alte Wiese 4
8755 Ennenda

Catégorie

  • Glaris

Publié à

17.12.2023

Webcode

www.glarneragenda.ch/wqKdPZ