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Glaris

Advent – Abschiedszeit oder Neubeginn?

Unser Kulturbloggerteam hat sich dieses Jahr vergrössert und zu einer dynamischen Truppe mit vielen Ideen entwickelt. Eine davon wird jetzt umgesetzt: Reihum schreiben wir an jedem Advent und bis zum Dreikönigstag einen Beitrag mit persönlichen Gedanken. Swantje Kammerecker macht den Auftakt.

von Swantje Kammerecker, Kulturbloggerin

 

Es ist der erste Advent, Sonntagmorgen, noch halb dunkel, als ich diese Zeilen tippe. Weil zur Zeit viel los ist, hatte ich meinen Beitrag für die Adventsserie des Kulturblogs schon letzten Sonntag „pfannenfertig“ geschrieben. Aber jetzt passt er mir nicht mehr so; in einer Woche kann sich einiges ändern! Das war der Einstieg: „Mit dem Advent beginnt zwar der letzte Monat eines Jahres, aber zugleich auch ein neues Kirchenjahr. Das alte verabschiedet sich mit dem Ewigkeitssonntag…“ Und es ging dann weiter mit der Idee, dass etwas Neuem immer das Zurücklassen, das Verabschieden vorangeht; ja dass es wichtig sei loslassen zu können, um der Zukunft entgegengehen zu können. Und so war mir die Idee eines speziellen „Adventskalenders“ gekommen: Wie wäre es, nicht etwa jeden Tag etwas auszupacken, sondern, im Gegenteil, jeden Tag etwas loszulassen? Etwa jemandem zu vergeben, etwas klären, sich entschuldigen, etwas ausgeliehenes zurückbringen. Ein Amt oder Abo, das mir zu viel ist, kündigen. Oder Dinge weggeben, Pläne für Projekte die einen nur stressen, begraben? Auf dass man Weihnachten leicht und frei sei? Sozusagen mentales Entrümpeln?

 

Nun stünde das natürlich schon in krassem Gegensatz zur allgemeinen Hochbetriebsamkeit des Advents. Die ist ja eigentlich eine Zeit der Erwartung, des Wachsens der Vorfreude, der Chrämli- und Geschenkberge (möglichst noch aus Selbstgebasteltem…!) und natürlich der To-do-Listen. Keine Zeit der Zurückgezogenheit, oft reiht sich Feier an Feier, nicht nur der Handel macht Überstunden. Keine Zeit, die wirklich Besinnlichkeit verspricht. Vielleicht wäre die Loslass-Challenge nur ein weiterer Stressfaktor auf der endlosen Liste (ebenfalls selbstgemachter) Erwartungen: Ach, das jetzt auch noch, ich soll mich heute auch noch drum kümmern, endlich das Buch da zurückzugeben …! Nein, nein, nein, so geht das nicht, Swantje. Wo ist hier der Punkt? Was willst du denn im und vom Advent?

 

Ohne dass ich mir diese Frage so direkt gestellt hätte, erhielt ich doch am Vorabend des ersten Advents eine überraschende Antwort. Nach einer vollen Arbeitswoche und anschliessend zwei dicht bepackten Tagen mit dem 10-Jahr-Jubiläum unseres Vereins kulturzyt – wo ich fast nonstop an der Front war – gönnte ich mir gestern Abend das Konzert des KFM (Kommithée fuehr Müsick) in der Stadtkirche Glarus. Und es war einfach nur ein Geschenk. Das wunderbar in wechselnden Farben beleuchtete Kirchengewölbe, die Musik der zwei Saxofone und des Streichquartetts – „Wintersongs“ hiess das Programm –, führten in eine tiefe innere Erfüllung. Das meiste war von der Bandleaderin, der Jazzmusikerin Sarah Chaksad, selber komponiert. Und das wenige, was sie sagte, war so stimmig. Ein Lied war ihrem Grossvater „im Himmel“, den sie wegen seiner Bescheidenheit bewunderte, gewidmet und hiess „Humility“ (Demut/Bescheidenheit), ein anderes „Thankfullness“( Dankbarkeit). Diese zwei Tugenden strahlt die grossartige Musikerin, die auch wild und ungestüm komponieren kann, intensiv aus. Mit ihnen wurde der gewaltige Raum der Stadtkirche geradezu geflutet. Die Seele weitet sich, der Sand „im Getriebe“ rieselt langsam heraus und ich muss gar nicht mehr aktiv „loslassen“ wollen, was ich mir vorgenommen habe. Einfach nur geschehen lassen. Zuvor Grosses wird klein, Gegenwart wichtiger als Pläne.

 

Und all das Schwere, was wir mitschleppen in dieser Zeit? Der Spagat zwischen dem Versuch eines kleinen persönlichen Glücks (inklusive dem Versuch, auch etwas für das Glück eines kleineren oder grösseren Kreises von Menschen zu tun) und all dem Monströsen in der Welt, dem wir anscheinend machtlos gegenüberstehen? Kann man fröhlich Glühwein trinken und zu kitschigen amerikanischen X-Mas-Popsongs tanzen, während sich in verschiedenen Teilen der Welt die Menschen gegenseitig abschlachten, ja ganze Völker einander auszulöschen trachten? In meinem Heimatland Deutschland gilt es inzwischen als Sicherheitsrisiko, Weihnachtsmärkte zu besuchen, weil sie im Fokus des islamistisch motivierten Terrorismus stehen. Das „Vorbild“ des Massakers von Berlin vor zehn Jahren findet eifrige Nachahmer. Gerade wurden zwei 15- bzw. 16-jährige Jugendliche festgenommen, die einen Anschlag auf den Leverkusener Weihnachtsmarkt mit einem mit Sprengstoffbeladenen LKW planten. Und im SPIEGEL, dem deutschen Nachrichtenmagazin lese ich über den nunmehr zweiten Kriegswinter in der Ukraine. „Natürlich fällt das schwer, wenn die Zivilisten in Kiew im Café sitzen“, zitiert ein Artikel einen schwerverletzten ukrainischen Soldaten: „Ich frage mich manchmal: Wieso kann ich nur mit einem Auge sehen? Wieso habe ich meinen Geruchssinn verloren? Aber es ist menschlich, leben und im Café sitzen zu wollen, anstatt zu töten… Wir müssen lernen, auch in Kriegszeiten glücklich zu sein.“ Was bleibt uns da noch zu sagen und fühlen, ja weiterzugeben, angesichts solcher Schicksale?

 

Demut und Dankbarkeit. Humility und Thankfullness. Davon kann es nicht genug geben. Nichts ist selbstverständlich. Auch wenn wir das hier in der „sicheren“ Schweiz meinen. Wenn wir unsere „Insel der Glückseligkeit“ im Advent wieder schön ausschmücken – wogegen per se ja nichts zu sagen wäre – sollten Demut und Dankbarkeit nicht fehlen. Sie sind der schönste Schmuck dieser Adventszeit. Versöhnlichkeit und Grosssherzigkeit folgen ihnen. Stehen wir an der Seite derer, die etwas zu beklagen und zu betrauern haben. Verzeihen wir uns selbst und anderen. Werden wir freigiebig – mental und materiell. Vielleicht geht das doch noch zusammen; Loslassen und Neubeginn im Advent, zur Weihnacht hin?

 

Am Schluss möchte ich Ihnen eine kleine Geschichte schenken, die ich vor Jahren geschrieben habe. Es ist nicht eigentlich eine Weihnachtsgeschichte. Sie handelt von einer Sternschnuppe, von einer zerbrochenen Freundschaft und einer Art Heilung. Ich gebe sie allen mit, die vielleicht gerade jetzt zu den Sternen aufschauen. Hiermit wünsche ich Ihnen eine gesegnete und befreiende Adventszeit!

 

 

Sternschnuppe (von Swantje Kammerecker)

Es war mein alter Freund, der Sterngucker, der mir die Geschichte von der Sternschnuppe erzählt hat.

Ob sie wohl wahr ist, werdet ihr hinterher staunend fragen. Ich glaube schon – mein Freund hat wirklich einige Sterne persönlich kennengelernt. Und mancher hat ihm seine Geschichte erzählt. Wie das möglich ist? Sterne, die unerreichbar fern am Himmel stehen?!

Mein Freund nickt. Ja, es geschieht selten, dass ein Stern zur Erde hinunterkommt. Kaum jemand wird das in seinem Menschenleben einmal mit eigenen Augen sehen. Wir kennen es nur so, dass jeder Stern seinen festen Platz da oben am Himmel hat. Das ist wichtig, denn dort hat er zu leuchten.

Manchmal aber, und das ist auch in einem langen, langen Sternenleben sehr selten, passiert es, dass sich zwei Sterne treffen. Wie das geht? Mein Freund kann das mit Formeln und physikalischen Gesetzen erklären. Aber die sind so kompliziert, dass unsereins nichts davon hat. Ist auch egal für unsere Geschichte.

Nun, einmal begegneten sich zwei Sterne am Himmel. Der eine war schön und verträumt, vielleicht ein bisschen eitel. Der andere hatte eine grosse Kraft und strahlte besonders hell, manchmal konnte er aber etwas aufdringlich sein. Beide spürten sie eine grosse Anziehung. Ja, sie verliebten sich! In einem kurzen Moment, als sie einander berührten, wollten sie für immer beisammenbleiben. Und so hielten sie sich dann mit den Händen fest – nein, bei den Sternen sind das die Strahlen. Vor Freude begannen sie zu tanzen, drehten sich schnell und immer schneller umeinander – und da geschah es: Die Fliehkraft ergriff sie. Bei der gewaltsamen Trennung riss aber der kräftige Stern ein Stück vom Kleid seines neuen Freundes mit sich, denn er hatte ihn nicht loslassen wollen.

Der schöne Stern schlüpfte betrübt hinter eine Wolke und besah das grosse Loch in seinem Kleid. Er begann sofort es zu flicken. Das dauert lange, denn dafür muss man viel Mondenstaub sammeln.

Der kräftige Stern blieb alleine zurück und trauerte ebenfalls – aber um seinen verlorenen Freund. „Was nützt es mir, dass ich ein Stück seines schönen Kleides habe? Er wird mir fehlen!“ Dann sah er an sich hinab und betrachtete den leuchtenden Streifen, der wie ein Schweif an ihm klebte. Wunderschön sah das aus! Doch noch etwas war geschehen: Der Schweif machte ihn beweglich; er konnte nun zwischen den Wolken umhertauchen wie ein Fisch im Wasser. So machte er sich gleich auf, seinen Freund zu suchen.

Alle anderen Sterne, die er traf, erglühten vor Bewunderung. „Seht, ein Stern mit einem Funkenschweif!“ – „Wie schön er ist!“ – „Und wie er tanzt und schwebt!“ – „Komm’ doch mal her – lass dich anschauen!“ –  „Möchtest du mein Freund werden?“ So wisperte es um ihn her. Aber der Stern machte sich nichts aus den anderen. „Ihr seid mir schnuppe!“ rief er und zog an ihnen vorbei. Da nannten sie ihn Sternschnuppe.

Viel Zeit verging, doch Sternschnuppe fand den Freund nicht. Allmählich liess seine Kraft nach, so dass er vor Erschöpfung einschlief. Dabei kippte er um, denn mit dem Schweif war es schwierig, das Gleichgewicht zu halten. Kopfüber purzelte er vom Himmel und leuchtete dabei noch einmal prächtig auf.

„Toll, eine Sternschnuppe!“ riefen die Menschen unten begeistert, „was für eine glückliche Stunde!“ Wie dumm von den Menschen! Hatten sie doch keine Ahnung, wie unglücklich der arme Stern war! Oder gewesen war – denn inzwischen war er in einen Goldfischteich gefallen und sein Kleid hatte sich im Wasser aufgelöst. Die Goldfische hatten die Glitzerkrümchen verspiesen und leuchteten nun ihrerseits. Aus der Seele des Sternes aber wuchs langsam eine wunderschöne Seerose. – Ist die Geschichte jetzt zu Ende? Nein, noch nicht ganz.

Oben am Himmel wurde die Sternschnuppe vermisst. „Wo ist der Wunderstern?“ fragten die anderen Sterne einander. Sie bekamen keine Antwort, auch nicht von dem Stern dort hinter der Wolke. „Ist mir schnuppe, der“, rief er, wenn ihn jemand darauf ansprach. – „Aber er war doch dein Freund!“ – „Nicht mehr! So ein Haudegen, hat mein schönes Kleid kaputt gemacht!“ So sehr beleidigt war er noch! Inzwischen kam er immer wieder einmal hinter der Wolke hervor, um zu leuchten. Sein Kleid war bestens geflickt, aber es fehlte ihm der verspielte Glanz alter Zeiten. Er war jetzt melancholisch statt verträumt und hatte nur eines im Kopf: Wenn ein Gewässer unter ihm erschien, spiegelte er sich unermüdlich darin. Er wollte wissen, ob er noch so schön wie früher wäre...

Eines Nachts schien der Vollmond. Die Erde, die sich unter dem Himmel drehte, strahlte plötzlich heftig auf. Ein kleines Gewässer von unbeschreiblicher Schönheit funkelte da in der Tiefe. Wieder stand der melancholische Stern darüber und als er sich spiegeln wollte, wurde er geblendet. „Was mag das sein?“ fragte er sich, hielt inne und lauschte. Da vernahm er ein leises Glucksen und Säuseln. Wie konnte er wissen, dass es die Goldfische waren, die da vergnügt Fangen spielten? Aber noch etwas anderes hörte er: Ein leiser Gesang voller Farben tönte zu ihm empor. Und als sich seine Sinne an das Helle da unten gewöhnt hatten, entdeckte er etwas Kunstvolles von erhabener Schönheit: Die Seerose! In samtenem Purpur leuchtete sie zu ihm hinauf, wiegte sich auf dem Wasser und sang. Da spürte der einsame Stern, dass sich etwas in ihm löste; ja, er vermeinte, sich aufzulösen: Er vergass zum ersten Mal seit langer Zeit, an sich selbst zu denken. In diesem Moment sank eine weissgoldene Träne hinunter zum Teich. Die Seerose trank die Himmelsspeise und das Blütenkleid schloss sich langsam.

„Hast du sie gesehen, die Sterne? die Seerose? Den Teich mit den Goldfischen?“ wollte ich meinen Freund fragen. Doch ich verstummte, als ich das Glitzern in seinen klaren, alten Augen sah.

ENDE

Autor

Kulturblogger Glarus

Catégorie

  • Glaris

Publié à

03.12.2023

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